Riss in der Zeit
Das Jahr 1990 ist ein Jahr mit einem langen Nachhall. Mit historischer Wucht pflügten sich in Ostdeutschland die Verhältnisse um. Glück, Sehnsucht, Hoffnung, Erleichterung und Enttäuschung lagen dicht beieinander. Ein Buch hat all das gespeichert.Als die DDR 1990 unterging und eine neue Zeitepoche anhob, blieb wenig Zeit zum Verstehen und Verarbeiten der Vorgänge. Denn die Veränderungen waren grundstürzend und liefen rasant ab. Nun könnte der monumentale Bild-/Textband »Das Jahr 1990 freilegen. Remontage der Zeit« dabei helfen, die Geschehnisse noch einmal anzuschauen und zu reflektieren – und sich selbst darin zu verorten. Reichlich dreißig Jahre nach dem großen Epochenbruch begibt sich in dem Buch ein Autorenkollektiv um den Leipziger Publizisten Jan Wenzel auf eine gleichsam archäologische Spurensuche nach den kleinen und großen Ereignissen des denkwürdigen Jahres 1990. Beispielhaft werden schlüsselhafte Ereignisse zusammengetragen, die wie in einem Prisma die sich damals so dramatisch verändernde Wirklichkeit einfangen. Noch einmal springt jene unglaubliche Dynamik dieser Monate über, die so tragisch hin- und herpendelten zwischen ungeahntem Aufbruch und herber Ernüchterung.
Damals hat die große Geschichte dem noch geteilten und bald wiedervereinten Deutschland einen Besuch abgestattet und es in unglaublicher Rasanz in eine neue Zeit geworfen. Was diese große Geschichte mit den kleinen Menschen gemacht hat, davon erzählt »Das Jahr 1990 freilegen« – nicht in der objektiven Weise eines Geschichtslehrbuches, sondern im subjektiven Blick auf einzelne Orte, Personen, Fabriken, Geschehnisse.
Wie in einem halbverwehten Traumbild wird dabei auch nochmal die Zeit vor 1990 in der vormaligen DDR ansichtig – natürlich mit dem Mangel, dem Verfall, den Grenzen, den Sehnsüchten, aber eben auch mit dem »gelebten Leben«, mit Arbeit, mit Feiern, mit Familie. Vor der Kontrastfolie des großen Einmarsches der »Macht des Geldes«, der 1990 so vielfältig über den Ostteil Deutschlands hereinbrach und in dem Buch geschickt in Wort und Bild dokumentiert wird, wirkt die Zeit vor 1990 in der DDR auch in einer gewissen Weise wie eine besonders wertvolle Zeit, weil eben nicht das Geld der oberste und bestimmende Wert war. So wird der niederländische Schriftsteller Cees Nooteboom zitiert, der sich 1990 in der DDR aufhielt und überraschend zum Zeitzeugen der Wende wurde. Er notierte am 5. Mai 1990: »Gigantische Geldschiebereien finden statt, man spekuliert, rechnet, überall riecht, schmeckt man das Geld, hört es pochen, es surrt durch die Gespräche, die Angst geht um, die Unsicherheit, was nach dem 2. Juli passieren und was das für jeden einzelnen bedeuten wird.«
Freilich geschieht in dem Buch keine ostalgische Verklärung, vielmehr ein Festhalten der unsäglichen Repression und Einschnürung in der DDR. Doch es steht als Frage im Raum, was die Dominanz von Geld, Besitz, Eigentum, Konkurrenz mit den Menschen und einer Gesellschaft macht. Denn auch das wird bereits 1990 deutlich: dass die neue Zeit der umfassenden Macht des Geldes einen Schatten wirft – neben dem grellen Glanz des Goldrausches gedeihen Unsicherheit, Angst, Enttäuschung, Wut, Radikalisierung, Gewalt.
Aber natürlich steht vor allem noch einmal das große Geschenk der Freiheit vor Augen und wie sehr Freiheit für ein Leben in Würde notwendig ist. Es bleibt dann wohl eine Lebensaufgabe, mit den nicht verwirklichten Träumen, Hoffnungen und Möglichkeiten leben zu lernen und mehr die Gnade und Chancen seiner Zeit zu sehen und zu ergreifen als das Begrenzende und Resignative.
Das Buch lädt somit nicht allein dazu ein, ein unglaubliches Zeitfenster der deutschen Geschichte Revue passieren zu lassen, sondern auch einen kunstvollen Umgang mit den Geschichten seines Lebens zu finden: Prägende Puzzlestücke aufzuspüren, nach Schlüsselmomenten zu suchen, eigene Positionen in den wechselhaften Geschehnissen der Zeit zu finden – und alles irgendwie zusammenzusetzen. Es hilft dabei zu erkennen, dass es keine bruchlose Identität gibt und es darum gehen könnte, sich mit seinen Brüchen anzunehmen und sich selbst gerade in den Brüchen (wieder) zu erkennen. Das Buch »Das Jahr 1990 freilegen« hilft dabei, sich einerseits selbst im größeren Zusammenhang der Geschichte zu verstehen und andererseits Mut zu den eigenen Träumen und Hoffnungen zu haben. Denn vieles ist möglich.
Jan Wenzel (Hrsg.): Das Jahr 1990 freilegen. Remontage der Zeit. Spector Books 2019, 592 S., 36 Euro.
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