Gott ist Beziehung
Resonanz: Der Jenaer Sozialphilosoph Hartmut Rosa beschreibt die Gegenwart als »Zeitalter der Beschleunigung« und warnt vor dem Ausbrennen des Planeten und der Seelen. Als Ausweg schlägt er ein Leben in Resonanz vor. Die Religion könnte dabei eine besondere Rolle spielen. Über ein neues Verhältnis zur Welt.Herr Rosa, Sie legen in Ihren Büchern den Finger in die Wunden unserer Gegenwart und erkennen viele Krisen. Können Sie kurz beschreiben, woran unsere Welt krankt und inwiefern wir heute falsch leben?
Hartmut Rosa: Zunächst möchte ich betonen, dass ich nicht einfach sage: früher war alles besser. Ich versuche, die Gegenwart unter dem Blickwinkel der Resonanzverhältnisse zu beschreiben und zu kritisieren. Aufgrund des grundsätzlich herrschenden Steigerungszwanges, also der Notwendigkeit, ständig zu wachsen, zu konsumieren, zu beschleunigen, bildet sich ein Aggressionsverhältnis zur Welt heraus.
Wie äußert sich das?
Weil wir gezwungen sind, Dinge zu optimieren, zu steigern und immer in Zeitnot sind, leben wir in einer Haltung, die Dinge möglichst schnell und effizient erledigen und eine permanente Optimierung anzustreben – also immer funktionaler, besser und schneller zu werden. Das wird ergänzt von der allgemeinen Vorstellung, dass es als erstrebenswert gilt, so viel von der Welt wie möglich in die eigene Reichweite zu bekommen, also so viel auszuschöpfen wie möglich. Das erzeugt ein bestimmtes Weltverhältnis, das als ein Aggressionsverhältnis und nicht als ein Resonanzverhältnis zu beschreiben ist.
Sie beschreiben drei große Krisen, die aus diesem Verhältnis zur Welt entstehen: die Klimakrise, die Demokratiekrise und die Psychokrise. Leiden die Welt, die Gesellschaft und unsere Seelen an Burn-out?
Ja, das kann man tatsächlich so sagen. Denn es kommt gewissermaßen zu einer Überhitzung durch permanente Beschleunigung. Wenn man sich die ökologische Krise anschaut, da ist das ganz buchstäblich zu sehen: die Erwärmung der Atmosphäre, die wir erleben, ist eigentlich eine Beschleunigung der Moleküle in ihr. Durch die Erhitzung verbrennen wir sozusagen den Planeten. Daran wird unser grundsätzliches Aggressionsverhältnis zur Natur sichtbar. Bei den Industrien zur Gewinnung von Bodenschätzen ist es besonders anschaulich: wir reißen die Erde auf, um ihr die Ressourcen zu entnehmen und zerstören dabei viel. Geleitet ist dieses Naturverhältnis von der Idee des Beherrschens, Verfügens, Kontrollierens. Doch der Versuch, die Welt auf diese aggressive Weise verfügbar zu machen, hat eine monströse Kehrseite: Die Unverfügbarkeit kehrt als Monster zurück. Die Natur, über die wir so umfassend verfügen und die wir beherrschen und kontrollieren wollen, wird plötzlich tödlich bedrohlich – und keineswegs souverän beherrscht.
Und das spielgelt sich auch in den seelischen und gesellschaftlichen Krisen wider?
Ja, das sind sozusagen die Innen- und die Außenseiten des Aggressionsverhältnisses zur Welt. Die Außenseite ist die Demokratiekrise. Da sind die Wut-Bürger, die die anderen zum Schweigen und zum Verschwinden bringen wollen. Dass wir in einer »Gesellschaft des Zorns« oder einem »Zeitalter der Empörung« leben, ist die eine Seite, wie sich das Aggressionsverhältnis zur Welt politisch äußert.
Die Innenseite zeigt sich an den zunehmenden Burn-out-Erkrankungen, bei denen man innerlich ausgebrannt ist und einfach nicht mehr kann. Burn-out ist die Verleiblichung der Ohnmachtserfahrung, in die das Streben nach totaler Beherrschung und Kontrolle umschlägt.
Inwiefern könnte das, was Sie als ein »Leben in Resonanz« beschreiben, ein Ausweg aus diesen Krisen sein?
Wir sind nicht nur einer »bösen« Welt ausgeliefert, sind nicht nur Opfer, sondern von Natur aus Resonanzwesen. Und deshalb kann kein noch so problematisches System, wie beispielsweise der Kapitalismus, diese Erfahrung vollständig zerstören. Wir bleiben resonanzfähig und erfahren Resonanzmomente immer wieder – zum Beispiel in der Interaktion mit anderen Menschen, in Augen-Blicken. Menschen haben einen Sinn für Resonanzverhältnisse und auch eine Sehnsucht danach. Das kann ein Leitfaden sein, sich aus den problematischen Verhältnisse zu befreien.
Sie beschreiben ein solches Leben in Resonanz auch als einen »vibrierenden Draht« zwischen dem Menschen und der Welt – als Möglichkeit, dem Beschleunigungsdruck und der Erstarrung zu entkommen. Wo erleben Sie persönlich ein Leben in Resonanz?
Mein Resonanzdraht ist ganz stark die Musik, aber auch in den Bergen erlebe ich Resonanz. Auch religiöse Zusammenhänge sind mir da wichtig, aber nicht unbedingt auf der rationalen Ebene, sondern als Erfahrungsraum.
Wie könnte Resonanz oder diese Erfahrung der Anrufung durch die Welt, wie Sie es nennen, erfahrbar werden?
In vielen alltäglichen Beziehungen, auf Arbeit oder beim Einkaufen, gibt es den Appell des anderen, in Resonanz mit ihm zu treten. Doch oft handeln wir wie abgeschnitten. Ich denke, da kommt auch die Wut und die Verbitterung her. Jemanden in die Augen zu schauen oder eine Stimme zu hören, trägt die Resonanzmöglichkeit schon in sich. Stattdessen lernen wir zu sagen: »Ich kann jetzt wirklich nicht.« Auch ich merke das, dass ich zum Beispiel auf Zugfahrten nicht immer bereit bin, jemandem beim Gepäckverstauen oder ähnlichem zu helfen, weil ich denke, dass ich so viel Eigenes zu tun habe. Doch genau genommen üben wir in solchen Situationen die Entfremdung ein: die Versteinerung und Gleichgültigkeit gegenüber der Welt.
Es geht also darum, die Vereinzelung zu überwinden und den Druck, der auf dem Einzelnen lastet, durch das Erleben von Verbundenheit zu mindern?
Erich Fromm hat einmal gesagt: Die Grundangst des modernen Menschen ist, dass er ein total isoliertes Atom ist, das völlig für sich alleine steht. Und dagegen entsteht dann die Gegenhoffnung der Fusion, die eine identitäre Gemeinschaft sucht und sagt: »Wir sind alle eins.« Aber das hat natürlich totalitäre und faschistische Züge.
Was wäre tatsächlich ein Ausweg?
Es ist eigentlich ein Verhältnis zur Welt nötig, das ich ein mediopassives nenne: Man ist in einem mittleren Zustand zwischen Handeln und Empfangen, ich gebe etwas, aber ich empfange zugleich auch etwas. Dabei bleibe ich ein Einzelner, bin aber verbunden mit anderen. Es geht um das Zusammenbringen von eigener Individualität und Verbundenheit. Wie bei der eigenen Stimme, die nicht verloren geht, sich aber verbinden kann mit anderen Stimmen, zum Beispiel in einem Chor.
Wie könnten die Religion und die Kirche dazu beitragen, dieses Leben in Resonanz zu fördern?
Ich sehe in der Religion ein Widerstandspotential gegenüber der Beschleunigungs- und Entfremdungslogik der modernen Gesellschaft. Denn in der Religion kommt eine andere Welthaltung zum Ausdruck, eine andere Idee des In-der-Welt-Seins. Und das kommt nicht nur auf der rationalen Ebene zum Ausdruck, sondern auch in Praktiken, in Liedern oder im Abendmahl. Das wurde über Jahrhunderte in Traditionen eingeübt und fast verkörperlicht. Im Kern ist die Religion das Versprechen, dass gegenüber der Transzendenz, gegenüber dem alles Umgreifenden des Menschen eine Resonanzbeziehung besteht. Ähnlich wie Martin Buber würde ich sagen: Religion ist das Versprechen, dass es am Grund meiner Existenz eine Antwortbeziehung gibt. Dass da im Ersten und im Letzten einer ist, der dich gehört und gesehen und dich ins Leben gerufen hat.
Was bedeutet das für die Vorstellung von Gott?
Dass Gott eigentlich selber Beziehung ist. Das drückt ja auch die Vorstellung von der Trinität Gottes aus. Aber auch viele Kirchenlieder transportieren diesen Grundgedanken, von Paul Gerhardt bis zu neueren Liedern wie »Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer«. Das sind ausgedrückte Erfahrungen von Resonanz. Das ist aber unverfügbar. Der Geist Gottes weht, wo er will. Die Kraft der Religion ist nicht ihre kognitive Weltdeutung, sondern so etwas wie ein Resonanzversprechen.
Wenn heute so sehr nach Resonanz gesucht wird, müsste die Kirche eigentlich Zulauf haben …
Das Problem der Kirche ist, dass sie, zum Beispiel in ihren Gottesdiensten, so etwas wie einen Resonanzraum schafft, aber dieser einen starken Oasencharakter bekommen hat. Und sie droht zu erstarren und die verlebendigende Kraft ihrer Rituale zu verlieren. Das ist immer ein Problem bei rituellen Zusammenhängen, dass diejenigen, die die Rituale vollziehen, eigentlich keine Resonanz mehr dabei erfahren. Aber im Prinzip haben diese Rituale und Traditionen die Kraft, Resonanz herzustellen, dass zum Beispiel das Abendmahl uns mit einem unverfügbaren Anderen in Beziehung setzt. Was empfehlen Sie?
Man müsste diese Erfahrung aus der Oase herausholen, sonst wird das immer abgespaltener vom eigentlichen Leben. Die Idee des resonanten Verbundenseins mit der Welt muss aus der Kirche heraus ins alltägliche Handeln übertragen werden.
Buchhinweis: Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp Verlag, 20 Euro (Taschenbuch).
Zur Person: Hartmut Rosa
Hartmut Rosa (54) ist seit 2005 Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt.
Aufsehen erregte 2005 sein Buch »Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne«, in dem er zeigt, dass die technologischen Entwicklungen der Moderne nicht Zeitgewinn, sondern Zeitnot erzeugen. Die Vielzahl der entstandenen Möglichkeiten führe dazu, dass ein Mensch die ihm gegebenen Möglichkeiten nicht mehr im Laufe seines Lebens ausschöpfen könne.
In seinem 2016 erschienen Bestseller »Resonanz« formuliert er einen Ausweg: »Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung.«
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