Mit null Euro durch Sachsen
Evangelische Jugend: Auf einer »Null-Euro-Tour« waren sächsische Jugendliche unterwegs im Erzgebirge. Bei dem Abenteuer ohne Geld wurde der Wert der Gemeinschaft, des Teilens und des Vertrauens entdeckt.Die Glocke schlägt zehn Uhr. Annika Zimmermann steht auf dem Pfarrhof von Mildenau im Erzgebirge und zerknüllt einen Fünf-Euro-Schein. Neun Augenpaare um sie herum schauen ungläubig. Annika wirft den Schein auf den Boden und trampelt auf ihm herum, bis er vollends ramponiert ist. Dann zeigt sie ihn in die Runde. Ist der Schein noch heil? Kann man damit noch bezahlen? Die 19-Jährige hat für ihren Tagesimpuls ein drastisches Bild gewählt. Sie ist Mitarbeiterin auf einer ganz besonderen Jugendfreizeit der Evangelischen Jugend Sachsens, die fünf Tage mitten durchs Erzgebirge führt: Die Null-Euro-Tour in der Wolkensteiner Schweiz. Neun Jugendliche und drei Betreuer wandern ohne Geld von Ort zu Ort und vertrauen auf das, was sie dort bekommen. Mit ihrer verblüffenden Aktion regt Annika am Morgen dazu an, beim Laufen über den Begriff »Wert« nachzudenken. »Der Wert des Fünf-Euro-Scheins bleibt erhalten, auch wenn er zerknittert ist«, sagt sie zu den Teenagern. »Genauso ist es mit euch. Gott liebt euch, ihr seid wertvoll, ganz egal, was passiert.«
Dieser Gedanke begleitet den Pulk auf dem Tagesmarsch. Zwölf Kilometer über Stock und Stein sind es von Mildenau bis Wolkenstein. Preis der Jugendfreizeit: Null Euro, all exclusive, lautet das Motto. Aber halt mal: Was heißt eigentlich null Euro? Kostet die Freizeit wirklich kein Geld? Wovon wird die Verpflegung bezahlt? Und wo bekommt man ohne zu bezahlen Unterkunft? Ehe man tiefer darüber nachdenken kann, schickt Annikas Segen uns los in den Tag.
In den schweren Rucksäcken sind die Schlafsäcke tief verstaut, Isomatten darauf festgeschnallt, außen hängen kleine Glücksbringer. Der Tross setzt sich in Bewegung und zieht bei frischem Wetter an der Mildenauer Kirche vorbei ins Grüne. Nach einem Kilometer wird es wärmer, die ersten Jacken werden ausgezogen. Zeit, um zu erfragen, was es mit dieser Tour auf sich hat, denn immerhin läuft sie schon den dritten Tag – und heute Mittag ist Bergfest.
Freimütig gibt Hans Konrad Rummel Auskunft. Er ist zum ersten Mal dabei. »Die Null-Euro-Tour kostet tatsächlich keinen Cent. Wir sind ohne Geld unterwegs und verzichten aufs Handy. Morgens gehen wir los und schauen, wo wir abends ankommen. Wir haben keine Lebensmittel dabei. Unsere Verpflegung und die Unterkunft verdienen wir durch Arbeit in den Orten, in denen wir ankommen«, berichtet er. Hans Konrad erfuhr durch seine Geschwister von der ungewöhnlichen Tour: »Der Nervenkitzel, die Spannung und die Natur haben mich gereizt«, sagt er und ergänzt: »Ich wollte mal eine Auszeit, vor allem auch von den Medien.« Und der Verzicht – auf Handy, Geld, die Gewissheit, wo man abends schläft? »Das macht mir nichts aus. Stattdessen hat man gemeinsame Erlebnisse, die Gespräche sind intensiver. Ich vertraue darauf, dass es jeden Tag etwas gibt.« Letzte Nacht hat er draußen geschlafen und wurde im Morgengrauen vom Geläut der Kirche geweckt. »Das bekommt man auf keiner normalen Rüstzeit«, schwärmt er. Da stecke er die leichten Schmerzen im Fuß vom Vortag schon mal weg.
Mittagspause an der Zschopau, Essenszeit und Bergfest. Auf dem Tisch landen Kekse, Müsliriegel und Brötchen vom Frühstück. Alles geschenkt und selbst verdient durch Arbeit, die nach den Wanderungen bei den Gastgebern erledigt wird. Da wurde Holz umgeschichtet, auf dem Friedhof gearbeitet, eine Dreckecke beräumt. Der Proviant reicht für alle, die Stimmung ist gut, das Gemeinschaftsgefühl mit Händen greifbar. Hans Konrads Schmerzen kommen zur Sprache, jemand fragt: »Wollen wir Füße tauschen?« Schon so ein einfacher Satz ermuntert zum Weitergehen. Die Jugendlichen erzählen von sich und ihren Eindrücken, blicken immer wieder auf vergangene Null-Euro-Touren zurück, die durchs Vogtland, die Sächsische Schweiz oder das Elbtal führten. In den Geschichten schwingt fast ein wenig Bedauern darüber mit, dass Corona dieses Jahr nur eine entschärfte Variante zulässt.
Leiter Johannes Bartels führte die Tour seit 2015 schon insgesamt sieben Mal durch. »Als Jugendevangelist koordiniere ich sonst eher Projekte und schule kirchliche Mitarbeiter. Als ich von der Idee hörte, wusste ich sofort, dass das mein Ding ist. Ich habe Spaß an kleinen Abenteuern und Low-Budget-Aktionen, da dachte ich mir, dass es auch für Jugendliche gut ist, mal wirklich auf Gott zu vertrauen«, erzählt er. Normalerweise geht die Gruppe ohne Anmeldung los und fragt spontan nach Essen und Übernachtung. »Nur durch Corona melden wir uns jetzt vorher an, da ist der Abenteuercharakter nicht ganz so stark«, sagt Bartels. Außer den Übernachtungsorten plane er fast nichts. »Auch um Frühstück kümmere ich mich nicht, das brachte uns heute Morgen der Friedhofsmeister«, freut er sich.
»Es wäre cool, wenn wir mal alle zusammen draußen übernachten würden«, sagt jemand. Einige blicken skeptisch. Letztlich lässt sich fast jeder vom gemeinschaftlichen Feuer anstecken. Angst? Kann gemeinsam überwunden werden. Hunger? Hat hier niemand, stattdessen wird geteilt. Der Muskelkater vom ersten Tag? Längst vergessen. Dafür herrscht Vorfreude auf das Ende der Etappe. Wo werden wir ankommen? Wer wird uns empfangen? Was gibt es zu essen? Wie werden wir schlafen? Wird es eine Dusche geben? Nichts davon weiß man jetzt schon. Eine Dusche gibt es erstmal gratis, als leichter Sprühregen einsetzt. Die Jacken werden wieder angezogen. Was sonst beeinträchtigend ist, wird ins Positive gewendet: »Da kuscheln wir uns eben enger aneinander«, ist in der Gruppe zu hören.
Das Bergfest bietet Zeit für eine kleine Rückschau. Jeder bekommt die Gelegenheit zu reden. »Warum seid ihr hier? Was hat sich für euch verändert?«, fragt Mitarbeiterin Annika in die Runde. Kristina und Maxi sind als Freundinnen mitgekommen. Sie erholen sich vom Abiturstress und genießen es, einmal nicht erreichbar zu sein. Entzugserscheinungen vom Handy haben sie nicht. Sie finden es sehr entspannend, einmal nicht nach dem Smartphone greifen und irgendwas auf Instagram anschauen zu müssen. Hier braucht man fast nichts, nur die Mitwanderer. Ein halber Apfel fällt herunter, da entfährt es Natalie: »Oh je, den kann ich jetzt wegschmeißen.« Doch auf der Null-Euro-Tour wird nichts verschwendet. Mit etwas Wasser ist die Frucht schnell wieder sauber. Alles ist wertvoll, denn man weiß ja nie, wann man wieder etwas zu essen bekommt. So steigt auch die Wertschätzung für Lebensmittel.
Weiter geht es in Richtung Wolkenstein, zwei Stunden sind noch zu laufen. Zaghaft lugt die Sonne hinter den Wolken hervor. Der naturnahe Weg wirkt beruhigend, an den Wiesen begrüßen neugierige Pferde die Wanderer. Kurz vor dem Ziel führt ein steiler Pfad nach Wolkenstein hinauf, die Burg trägt ihren Namen nicht von ungefähr. In der Alten Pfarre erwartet Pfarrerin Regina Regel die Gruppe. Sie ist begeistert von der Idee und hat mit der Kantorin eine reichhaltige Vesper organisiert, die schnell verputzt wird. Wortgewandt führt sie durch ihre Bartholomäus-Kirche. Bei einem Mädchen fließen ein paar Tränen der Erschöpfung.
Nicht viel später geht es wieder an die tägliche Arbeit. Die Null-Euro-Arbeitskräfte schwärmen aus. Sie verrichten ihr Tagwerk fleißig und klaglos. Die Pfarrerin ist froh, dass Maxi den Rasen mäht. Kristina verpasst dem Zaun auf dem Friedhof einen neuen Anstrich, an einer Steinmauer entfernen Emma, Markus und Hans Konrad hartnäckigen Efeu. Ohne Murren wendet sich jeder seiner Aufgabe zu. Geld gibt es nicht dafür. Aber zur Belohnung wird die örtliche Junge Gemeinde abends grillen, es wird viele neue Begegnungen mit Menschen geben, die die Jugendlichen noch nie vorher gesehen haben. Die Null-Euro-Tour bietet von allem genug, auch wenn man nichts bezahlt. Sie öffnet die Herzen, vor allem aber stiftet sie berührende Gemeinschaft. Manche Dinge sind eben nicht für Geld zu bekommen.
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