Der Kelch und das Virus
Abendmahl und Corona: Was vor Corona die Regel war, ist heute die Ausnahme: Trinken aus dem Gemeinschaftskelch. Kirchgemeinden feiern das Abendmahl jetzt anders – und ganz verschieden.Neben dem Altar der Pauluskirche Zwickau liegen etwa alle 14 Tage im Gottesdienst mehrere Tabletts auf einem Tisch. Darauf stehen Dutzende handgefertigte Becher aus Tonsteinzeug: Einzelkelche mit Hostienhalterung. Beim Abendmahl nimmt sich jeder wortlos einen der Kelche und stellt sich um den Altar. Pfarrer Anselm Meyer spricht die Austeilungsworte »Christi Leib für dich gegeben«. Jeder nimmt sich seine Hostie von der Außenseite am Kelch und isst sie. Nach dem Zuspruch »Christi Blut für dich vergossen« trinkt jeder seinen Wein. Bei der Rückkehr in die Kirchenbank werden die Kelche auf einem Tisch am Mittelgang abgestellt.
So oder ähnlich gestalten derzeit viele Kirchgemeinden der Landeskirche das Abendmahl. Wurde bis zum Februar 2020 in der Regel aus einem Gemeinschaftskelch getrunken, hat seit der Corona-Pandemie meist der Einzelkelch Einzug gehalten. Auch Annabergs Superintendent Olaf Richter macht in seinem Kirchenbezirk diese Erfahrung. Jüngst habe nun auch seine Kirchgemeinde Einzelkelche bestellt. Zwickaus Pfarrer Anselm Meyer meint: »Unter den jetzigen Umständen ist das eine angemessene Lösung.« Es sei ein Behelf wegen der Hygiene. »Und es ist nur für den Übergang«, ergänzt er. Schließlich wolle er »unbedingt wieder zum Gemeinschaftskelch«.
Seit der Reformation feiern Protestanten das Abendmahl in beiderlei Gestalt. Dem Gemeinschaftskelch wurde der Weg geebnet. Doch die Corona-Beschränkungen hatten viel Gemeinschaftliches jäh ausgebremst, sogar zeitweise die gottesdienstliche Versammlung in den Kirchen und die Abendmahlsfeier.
Die Kirchgemeinden standen vor der Herausforderung, dass die traditionelle Abendmahlspraxis aus hygienischen Gründen unterbleiben sollte. Während manche schon vor Corona Bedenken gegen den Gemeinschaftskelch hatten, wollten andere auch in Zeiten von Corona daran festhalten. Einige hatten Angst vor einer Ansteckung bei zu großer Nähe. Jede Kirchgemeinde musste eine Lösung für ihre Abendmahlspraxis finden und dafür virologische, soziologische und theologische Einsichten sowie individuelle Bedürfnisse berücksichtigen.
»Corona bedeutete zunächst eine Unterbrechung der Feier, dann eine vielfältige Wiederannäherung an das Abendmahl in unterschiedlichen Formen«, blickt Alexander Deeg zurück. Der Professor für Praktische Theologie an der Universität Leipzig habe seither viele Formen kennengelernt: Wandelabendmahl, Feier nur mit Hostie, mit Einzelkelchen, am Platz, Haus- abendmahl sowie die digitale Abendmahlsfeier, zählt er auf. »Ich sehe diese neue Vielfalt als große Chance für das Abendmahl«, so der Theologe.
Der letzte Vorschlag des Landeskirchenamtes dazu stammt vom Mai 2021: Beim Wandelabendmahl solle der Pfarrer die Hostie in den Gemeinschaftskelch tauchen und dann dem Kommunikanten stumm übergeben. Das Trinken aus dem Gemeinschaftskelch solle unterbleiben. Der Gebrauch von Einzelkelchen wird nicht empfohlen.
Die Landessynode diskutierte im Juli 2021 intensiv über die veränderte Praxis und verabschiedete eine Erklärung. Im Vorwort ermuntert Landesbischof Tobias Bilz zur häufigen Feier des Abendmahls, »um Glauben zu stärken, um Gemeinschaft mit Gott und untereinander zu feiern, um Vergebung der Sünden leiblich zu erfahren«.
Vorausgegangen war ein drastischer Rückgang der Abendmahlsfeiern und ihrer Gäste: Statt rund 740 000 Christen im Jahr 2019 waren 2020 laut Statistik der Landeskirche nur noch knapp 200 000 beteiligt. Die Landessynode empfahl die Verwendung des Gemeinschaftskelchs »im Regelfall«, ohne eine genauere Praxis zu beschreiben. Angewendet wird der Gemeinschaftskelch nun in ganz verschiedener Form: In der Martinskirchgemeinde Hirschstein bei Riesa trinken die Kommunikanten jeden Sonntag beim Abendmahl aus dem Gemeinschaftskelch – wie früher. Auch die Leipziger Marienkirchgemeinde nutzte den Gemeinschaftskelch, aus dem statt Wein aber Weinbeeren gereicht wurden. »Ich denke, es geht heute darum, den einen Kelch als liturgisches Symbol unbedingt zu bewahren«, sagt Alexander Deeg. Der Theologe empfiehlt dafür den Gießkelch, aus dem Wein in Einzelkelche gegossen wird. Zugleich ist er dagegen, die Vielfalt der Formen »wieder normativ auf die ›eine richtige‹ Form zu reduzieren«. »Beim Abendmahl geht es immer darum, das zu tun, was Jesus geboten hat. Jedes Abendmahl ist eine Art ›Reinszenierung‹ des Ursprungsmahles, die dieses Mahl nicht imitiert, aber es doch erkennbar werden lässt«, erklärt er. Weintrauben halte er deshalb »für kein geeignetes Symbol, um das ›Blut‹ des Herrn darzustellen«.
Aus virologischer Sicht sei die Praxis mit Einzelkelchen und ausreichend Abstand zu Nachbarpersonen »jeder anderen Praxis vorzuziehen«, sagt der frühere Leiter des Instituts für Virologie an der Universität Leipzig und frühere Landessynodale, Uwe Gerd Liebert. »Eine Rückkehr zum Gemeinschaftskelch ist für mich zum gegenwärtigen Zeitpunkt und für die vor uns liegenden Wintermonate weder sinnvoll noch vorstellbar«, sagt der Virologie-Professor. »Das Infektionsrisiko ist einfach zu groß.«
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