Nicht vor sich selbst weglaufen
Pierre Stutz (70), Theologe und Erfolgsautor, erlebte eine tiefe Lebenskrise, weil er die eigene Homosexualität ablehnte. Nun wagt er einen Lebensrückblick. Ein Gespräch über Selbstannahme und Gott.Herr Stutz, Ihre gerade erschienene Autobiografie trägt den Titel »Wie ich der wurde, den ich mag«. Haben Sie sich denn vorher nicht gemocht?
Pierre Stutz: Die vielen kreativen Seiten in meinem Leben mochte ich natürlich immer. Da fühle ich mich reich beschenkt. Aber der Titel bringt auf den Punkt, dass ich 49 Jahre lang Krieg gegen mich geführt habe, weil ich meine homosexuelle Begabung, wie ich das heute nenne, abgelehnt habe. Weil sie in den Kirchen einfach verdammt wurde. Darum zieht sich das große Lebensthema, sich selber zu mögen, mit sich befreundet zu sein, eigentlich durch all meine Bücher. Ich musste das ganz hart erkämpfen. Zwischendurch war es lebensgefährlich. Ich hatte ein zweijähriges Burnout. Die sexuelle Orientierung ist etwas sehr Identitätsstiftendes – wer dagegen ankämpft, ist einfach verloren, der ist immer auf der Flucht. Er kann hingehen, wo er will, und nimmt sich immer mit. Diese Angst vor Ablehnung, diese Angst, im Abfalleimer zu landen, das habe ich in meinen Psalmenaktualisierungen schon als junger Schreiberling verschlüsselt thematisiert. Und dahinter steckte immer, dass ich diesen Teil in meinem Leben nicht integrieren konnte.
Ein zweijähriges Burnout – man könnte ja eigentlich denken, dass das einem Pierre Stutz, der die Psalmen so schön aktualisiert und scheinbar einen so starken Glauben hat, gar nicht passieren kann.
Ja, das wäre das alte Muster: Wer wirklich glaubt, dem kann so etwas nicht passieren. Dass man den ganzen Himmel haben könnte, ist so ein frommer Wunsch. Aber diese Vorstellung entspricht nicht der biblischen Tradition. Und ich kenne auch keine weise Frau, keinen weisen Mann, die nicht auch schwere Zeiten durchmachen mussten. Je mehr Licht wir erfahren, desto mehr spüren wir die Dunkelheit. Hier auf Erden ist es schonmal toll, wenn wir ein Stück Himmel erleben. Wirklich glauben heißt aber nicht, nur Glück zu erfahren, sondern auch wirklich zweifeln und verzweifeln zu dürfen. Meine geliebten Gebete, die Psalmen: 50 von 150 sind Klagepsalmen. Klage und Lob: Nur wenn beides in mein Leben gehören darf, kann ich die Geburt Gottes in mir erfahren. Mystische Menschen bringen es auf den Punkt: Es gilt, dieses Paradox auszuhalten.
Wie nehmen jüngere Menschen diese Botschaft, dass auch Dunkel und Leid dazugehören, auf?
Die ersten Reaktionen auf diese Autobiografie machen mich unglaublich glücklich. Gestern hat mir ein 35-jähriger Mann geschrieben, der sich in einem totalen Burnout befindet: »Ich lese Ihr Buch und denke, es ist nur für mich geschrieben.« Dieser unglaubliche Leistungsdruck und diese Gewinn- optimierung nehmen zu. Schon Kinder und Jugendliche leiden an Burnout. Das war auch eine Motivation für mich, dieses Buch zu schreiben. Junge Frauen aus der OutInChurch-Bewegung haben mich ermutigt: »Schreib deine Geschichte auf, das ist wichtig für uns.« Darum würde ich jetzt nicht mehr sagen, Mystik ist für Leute in der Midlife-Crisis. Wie sorge ich gut für mich? Wie bleibe ich trotz allem solidarisch? Wie engagiere ich mich für eine Welt, die anders, zärtlicher, werden kann? Wo erahne ich den göttlichen Segen im Alltag? Das sind zwar keine Mainstream-Themen. Aber an den jüngeren Menschen, mit denen ich ins Gespräch komme, merke ich, das sie generationsübergreifend sind.
Was hat die Mystik uns denn heute noch zu sagen?
Für mich war es ein großes Geschenk. Während meines Burnouts hatte ich das Gefühl, Teresa von Avila hätte nur für mich geschrieben, wenn sie sagt: »Sei auch bei dir selbst zuhause.« Auch Johannes Tauler, der Weggefährte von Meister Eckart, hat mich persönlich angesprochen: »Geh deiner Angst vor Liebesentzug auf den Grund.« An der mystischen Tradition fasziniert mich, dass da die großen Glaubensspuren – christlich ausgedrückt: Tod und Auferstehung – existenziell ins Leben hineingewebt werden. Und es wird aufgezeigt, dass man Idealbilder von sich selbst sterben lassen muss, um in eine neue Qualität hineinwachsen zu können, also aufzuerstehen.
Das gilt aber nie nur für mich selbst. Seit meiner Jugend engagiere ich mich für die Menschenrechte. Und auch die beginnen in mir: Wenn ich mir nicht die Würde zusprechen kann, dann genügt es nicht, wenn andere sie mir zusprechen. Bei mir war es dann aber so, dass meine Glaubensgemeinschaft mir die Würde abspricht. Bis heute gibt es menschenverachtende Aussagen im katholischen Katechismus. In der evangelischen Tradition hat sich, Gott sei Dank, in den meisten Landeskirchen sehr viel verändert.
Und trotzdem schreiben Sie auch von einem Zusammenhang zwischen dem Gemocht-Werden von anderen und der Fähigkeit, sich selbst zu mögen.
Ja. Dieser Dreiklang Selbstliebe, Nächstenliebe, Gottesliebe, der ist ja wunderbar. Und in der mystischen Tradition wird klar auf den Punkt gebracht: Wenn tausend Leute dir sagen, ich mag dich, wenn du es dir aber selbst nicht von Herzen sagen kannst, dann ist es ein Fass ohne Boden. Und das habe ich auch in meinem Leben erfahren. Ich war immer reich beschenkt mit Wertschätzung, mit Anerkennung. Aber je erfolgreicher ich wurde, umso depressiver wurde ich. Meine Seele hat sich, Gott sei Dank, nie von meinem Erfolg blenden lassen. Sie hat mich immer ganz tief auf mich zurückgeworfen und gefragt: Möchtest du Erfolg haben oder möchtest du glücklich sein? Und ich war 49 Jahre lang im Innersten todunglücklich, weil ich Jesu Worte »… wie dich selbst«, »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« nicht voll integrieren konnte.
Braucht man ein gewisses Alter, um zu dieser Selbstliebe zu finden?
Das habe ich eine Zeitlang gemeint, obwohl ich diese Zusammenhänge ja schon sehr jung erfahren habe. Ich weiß noch, als ich die ersten Briefe an Mystiker geschrieben habe, also mit 40, da haben nicht wenige Leserinnen mir geschrieben, sie seien total erschrocken, dass ein 40-Jähriger sowas schreiben könne. Sie hätten gedacht, ich sei 70. Ich habe eben seit ich Kind war – meine verlorene Kindheit – die Zerbrochenheit des Lebens immer wieder erfahren, aber zugleich auch das Glück. Und je älter ich werde, desto klarer wird mir diese tiefe Lebenserfahrung. Es ist mein Glaubensgeschenk, dass ich glücklich werde, wenn ich jeden Tag auch unglücklich sein darf. Das Leben ist bezaubernd schön und ich versuche, es Tag für Tag bis in die Zehenspitzen zu genießen. Und das Leben ist auch brutal grausam. 35 Kriege weltweit. Auf einem spirituellen Weg geht es darum, diese Zerbrochenheit anzunehmen.
Braucht es einen spirituellen Blick auf die Dinge, um mit dieser Zerbrochenheit umgehen zu lernen?
Für mich ist Glaube, die spirituelle Deutung, existenziell wichtig. Aber ohne Psychotherapie hätte ich vielleicht kaum überlebt. Als Sechsjähriger bin ich während einer sexuellen Gewalt- erfahrung aus meinem Körper ausgestiegen. Ich konnte nur überleben, weil ich diese Erfahrung 32 Jahre lang verdrängt habe. Was die Traumatherapie da kraftvoll herausgearbeitet hat, ist mir wichtig. Wenn ich das dann aber nicht spirituell deuten kann, bleibe ich auf der Strecke. Dann verzweifle ich. Da ist ein existenzieller Glaube wichtig, keine moralischen Appelle wie »Kopf hoch« oder »Du muss halt verzeihen«. Solche Appelle sind für mich ein Überforderungsprogramm, das inneren Groll fördert. Stattdessen geht es darum zu sagen: Ein Leben lang darf ich verzeihen, ein Leben lang darf ich dankbar sein, dass ich da wieder eine Angst abbauen konnte.
Diese Spiritualität der Unvollkommenheit ist mein ganz großer Bogen durchs Leben. Als der 35-jährige Antoine Leiris beim Anschlag im Pariser Bataclan seine Frau verlor, postete er auf Facebook: »Meinen Hass bekommt ihr nicht.« Zwei Wochen später schrieb er: »Dieser Satz überfordert mich.« Es ist für mich echte Spiritualität, darauf zu vertrauen, dass uns auch in der Grausamkeit des Lebens Worte geschenkt werden, die uns aufrichten und die uns zugleich überfordern. Und dann können wir immer mehr so werden, wie wir von Anfang an gemeint sind: geborgen und frei, kraftvoll und verletzlich.
Obwohl Sie das Leben immer wieder mit seinen dunklen Seiten konfrontiert hat, wirken Sie heiter. Wie kommt das?
Ja, der Humor, Charlie Chaplin lässt grüßen. Also da lach ich mich krumm mit Charlie Chaplin. Und dabei geht es um hochpolitische Dinge. Die kleinen Menschen erhalten dort eine einmalige Würde, gerade durch den Humor. Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, hat Auschwitz überlebt. Und der sagt, wenn die Seele an die Wand gedrückt wird, dann ist es manchmal nur noch der Humor, der uns rettet. Das ist für mich eine ganz wichtige Kultur. Humor kann man nicht machen, aber man kann ihn kultivieren. Die Filme helfen mir da auch.
Buchinweis: Pierre Stutz: Wie ich der wurde, den ich mag. bene!-Verlag/Droemer Knaur München 2023, 191 S., 22 Euro.
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