Die Liturgie in Zeiten des Kriegs
In der Ukraine konkurrieren zwei große orthodoxe Kirchen miteinander. Der russische Angriffskrieg hat auch Einfluss auf das Leben der Gläubigen im Land. Warum Selenskyjs Politik der spirituellen Unabhängigkeit eine heikle Gratwanderung ist.Mitten im Krieg Russlands gegen die Ukraine erinnerte Präsident Wolodymyr Selenskyj seine Landleute an ein prägendes historisches Ereignis: Am 1. Dezember 1991 stimmten über 92 Prozent dem Unabhängigkeitsreferendum zu. Es legte den Grundstein für die Eigenstaatlichkeit des Landes und besiegelte das Ende des Imperiums, so Selenskyj. Die vollständige Souveränität wolle er weiterhin sicherstellen, ganz besonders die spirituelle Unabhängigkeit der Ukraine. Dazu müssten Bedingungen geschaffen werden, die die Einflussmöglichkeiten Moskau-abhängiger Akteure kappten. Die Rede zielte ganz konkret auf religiöse Zirkel – und beinhaltete ein Maßnahmenpaket, das die religiöse Landschaft der Ukraine in noch nicht vollständig absehbarer Weise tangieren wird.
In der Ukraine konkurrieren zwei große orthodoxe Kirchen miteinander: Erstens die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche (UOK), die sich Ende Mai 2022 vom Moskauer Patriarchat losgesagt hat. Zweitens die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU), die aus einer Fusion im Dezember 2018 hervorgegangen ist, und der vom Ökumenischen Patriarchat in Konstantinopel kirchenrechtliche Unabhängigkeit (Autokephalie) zuerkannt wurde. Über die Zugehörigkeit von Gläubigen gibt es aktuell keine verlässlichen Daten.
Die Monate des Krieges beschworen eine existentielle politische Rivalität der beiden Kirchen herauf, bei der das Bekenntnis zum ukrainischen Staat und die Abwendung von Moskau im Vordergrund stehen. Die Kirchenleitung der UOK unter Metropolit Onufri distanzierte sich bereits wenige Stunden nach Beginn der Invasion in aller Deutlichkeit vom Krieg. Sie verurteilte das Gebaren des russischen Patriarchen Kyrill in ungekannter theologischer Schärfe und sagte sich schließlich explizit von ihm und vom Moskauer Patriarchat los – ein in der orthodoxen Tradition unerhörter Vorgang.
Die OKU unter Leitung von Metropolit Epiphanius nahm ebenfalls eindeutig Position für die Ukraine ein und forderte die orthodoxe Ökumene zur Verurteilung von Patriarch Kyrill auf. Gleichzeitig kritisierte sie weiterhin das Vorhandensein von Strukturen des Moskauer Patriarchats in der Ukraine.
Dem versucht die UOK mit weitreichenden theologischen Vorstößen mit nicht zuletzt hoher Symbolkraft zu begegnen: So verzichten Geistliche der UOK auf die sonst übliche Anrufung Kyrills (Kommemoration) in der Liturgie. Ferner soll die Myron-Weihe, welche seit 1917 in Moskau durchgeführt wurde, wieder aufgenommen werden. Myron wird hauptsächlich für die Myronsalbung (Firmung) unmittelbar nach der Taufe verwendet.
Die OKU markiert ihre politische Position etwa durch einen Beschluss, nach dem es Gemeinden freigestellt ist, das Weihnachtsfest bereits am 25. Dezember und nicht wie seit Jahrhunderten am 7. Januar zu begehen. Damit bietet sie einen Wechsel aus den Reihen der Altkalendarier, die dem Julianischen Kalender folgen, in die der Neukalendarier an, die dem Gregorianischen nachkommen und so in Einklang mit den Westkirchen stehen.
Dass die religiöse Sphäre in der Ukraine immer weiter in den Fokus der Politik rückt, haben die letzten Wochen gezeigt. Im November führte der Ukrainische Inlandsgeheimdienst (SBU) Durchsuchungen in Einrichtungen der UOK durch, zuletzt auch im Kyjiwer Höhlenkloster, dem Sitz Onufris und Unesco-Weltkulturerbe. Anlass bildete das dortige Singen des Lieds der Gottesmutter, das als prorussisch klassifiziert wurde.
Bei Razzien in Kirchenräumen an verschiedenen Orten der Ukraine wurde unter anderem prorussisches Propagandamaterial sichergestellt, teilte der SBU mit. Die UOK trennte sich vor diesem Hintergrund von mehreren Geistlichen (den Metropoliten Elischa von Isjum und Kupjansk; Joseph von Romny und Buryn sowie Ioasaf von Kropywnyzkyj und Nowomyrhorod).
In seinem Maßnahmenpaket zur Bewahrung der spirituellen Unabhängigkeit der Ukraine kündigt Selenskyj nun konkrete politische Schritte im religiösen Sektor an: Erstens soll ein Gesetzesentwurf erarbeitet werden, der Verbote religiöser Organisationen mit Beziehungen zu Moskau ermöglicht. Zweites soll das Statut der UOK auf kanonische Verbindungen zum Moskauer Patriarchat hin überprüft werden. Drittens sollen die Eigentums- und Nutzungsrechte des Kyjiwer Höhlenklosters durch die UOK begutachtet werden.
Desweiteren soll die religiöse Landschaft der Ukraine geheimdienstlich und sicherheitspolitisch stärker ins Visier genommen werden, um Manipulationen und Einflüsse Russlands zu unterbinden. Dazu werden Sanktionen auch gegen Kirchenvertreter in Aussicht gestellt.
Die neue Politik der spirituellen Unabhängigkeit stellt eine heikle Gratwanderung dar. Sie zielt ausschließlich auf die religiöse Sphäre und richtet sich voll und ganz gegen Einflüsse aus Moskau. Das ist angesichts des Krieges und der aggressiven Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche unter Leitung Patriarch Kyrills politisch nachvollziehbar. Sie stellt aber gleichzeitig Geistliche und Gemeinden der UOK unter Generalverdacht prorussischer Propa- ganda, erkennt die proukrainischen politisch-theologischen Vorstöße kaum an und suggeriert den Bruch mit religiösen Traditionen – mehr als hartes Brot für Gläubige und in einer zukünftigen Nachkriegszeit gefährlicher gesellschaftlicher Zündstoff.
Befördert wird ein stärkeres Zusammendenken und Zusammengehen von Nation und Orthodoxie in der Ukraine, auf dem Weg hin zu einer Nationalkirche, den die OKU mit staatlicher Unterstützung beschreiten könnte. Das Maßnahmenpaket suggeriert als Sitz das symbolträchtige Kiewer Höhlenkloster, über den Ufern des Dnepr, wo einst die Taufe der Rus’ vollzogen worden sein soll.
Die Autorin ist Studienleiterin bei der Evangelischen Akademie Sachsen.
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