»Vergebung braucht Ehrlichkeit«
Sexualisierte Gewalt: Die Unabhängige Aufarbeitungskommission Pobershau hat ihren Abschlussbericht vorgestellt. Er zeigt Straftaten und Fehler genauso wie Traumata und Gemeindespaltung.Dorothea Landgraf schämt sich. Die Diakonin muss das jetzt noch öffentlich sagen. Denn nach den Worten ihres Vaters vor versammeltem Publikum in der Silberscheune Pobershau hält es sie nicht mehr auf dem Stuhl. »Ich bin dankbar, dass die Betroffenen so stark waren«, sagt sie sichtlich bewegt, schaut zu den drei Frauen im Publikum und dann zum eigenen Vater. Es tue ihr leid, was an Halb- und Unwahrheiten über die Frauen und insgesamt über den Missbrauch und seine Aufarbeitung in Pobershau in Umlauf sei.
Damit reagiert sie nicht nur auf die Worte ihres Vaters: Er hält den Aufwand der Unabhängigen Aufarbeitungskommission Pobershau (UAKP) für übertrieben und den Umgang mit seinem beschuldigten Schwiegersohn für falsch. Dorothea Landgraf reagiert auch auf die immer noch kursierenden Zweifel am Missbrauch durch ihren Schwager und auf die Spaltung der Gemeinde – oder wie bei ihr auch in der Familie.
Der Abschlussbericht der Aufarbeitungskommission fasst all das auf gut 120 Seiten detailliert zusammen. Die vier Kommissionsmitglieder beleuchten darin zum Beispiel das Ausmaß des Missbrauchs durch den früheren ehrenamtlichen Kantor: »Wir haben es hier im Wesentlichen mit sexuellem Missbrauch von Kindern zu tun«, ordnet Rechtsanwalt Jörn Zimmermann ein. Die Übergriffe seien dabei gezielt und nicht zufällig passiert. Die Straftaten gegenüber den drei Betroffenen hätten sich im Zeitraum von 1997 bis 1999 oft wiederholt. Insgesamt seien aber sechs oder sieben Frauen betroffen, eine davon auch noch Jahre später, heißt es im Bericht.
Für den Anfang 2022 begonnenen Aufarbeitungsprozess wurden laut der Traumatherapeutin Julia Schellong etwa 1000 Seiten Akten eingesehen, 22 Gespräche mit 30 Menschen geführt, manchmal länger als zwei Stunden. Die Unterstützung mit Akten und Archivmaterial durch die Landeskirche habe problemlos funktioniert, sagt sie.
Durch die Befragung seien verschiedene Täterstrategien ans Licht gekommen, sagt Sozialpädagogin Christiane Hentschker-Bringt. Der Beschuldigte genoss größtes Ansehen und Vertrauen. Eine »Lichtgestalt«, heißt es im Bericht, und zeigt Parallelen zum jahrzehntelangen Missbrauch durch den Diakon Kurt Ströer. Entsprechend habe sich niemand in der Gemeinde diese Taten vom Beschuldigten vorstellen können, sagt die Sozialpädagogin von der Fachstelle zur Prävention sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche »Shukura« in Dresden.
Zudem habe es in den 90er und auch späteren Jahren für die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle keine Strukturen in der Landeskirche gegeben, blickt Kommissionsmitglied Gregor Mennicken zurück. Doch seitdem der damalige Pobershauer Pfarrer Burkhard Wagner 2019 vom Missbrauch erfuhr, den Kantor suspendierte und mit den Betroffenen für die Aufarbeitung kämpfte, habe sich viel verändert, meint der Psychotherapeut anerkennend. Im Übrigen sei die Veröffentlichung der Missbrauchsfälle in Pobershau eine Ermutigung für die Betroffenen von Kurt Ströer gewesen, an die Öffentlichkeit zu gehen, sagt Gregor Mennicken.
Für die drei betroffenen Frauen, die zur Vorstellung des Abschlussberichts wieder in ihre alte Heimat gekommen sind, ist die Aufarbeitung ermutigend und eine Anerkennung des Leids. »Ich kann ein Stück meiner Geschichte jetzt loslassen«, sagt Katharina W. dem SONNTAG. Was der Missbrauch, die öffentliche Bekanntmachung und die immer wieder an sie herangebrachte Forderung nach Vergebung mit den Betroffenen gemacht haben, beschrieb die Traumatherapeutin Julia Schellong unter anderem mit Depression, Wut, Scham und Schuldgefühl. Die Folgen von Missbrauch seien verschiedenster Natur, etwa sozial, psychisch und auch körperlich. »Ich danke den Betroffenen für den Mut, sich uns zu stellen«, so Schellong.
Die Betroffenen arbeiteten im Beirat der Aufarbeitungskommission mit, wurden angehört und begleiteten den Aufarbeitungsprozess. »Ich hatte Vertrauen zur Kommission«, sagt Katharina W. und spricht von einer »souveränen Arbeit«. Stolz und zugleich noch etwas ungläubig meint sie: »Ich finde es bemerkenswert, dass wir tatsächlich Strukturen in der Landeskirche ändern konnten.«
Der Landesbischof weiß, dass diese Veränderung nicht ganz reibungslos ablief. »Anhand von Pobershau haben wir sehr viel gelernt, was man tut und was man besser lässt«, sagt Tobias Bilz. Mit der Aufarbeitungskommission sei er sehr zufrieden: »Der Bericht ist ein wirklich starkes Werk. Wir haben damit erstmals eine Systematisierung und Konkretisierung.«
Einige der 22 Empfehlungen aus dem Bericht macht der Landesbischof gleich zu eigenen Forderungen: »Wir brauchen eine theologisch-seelsorgerliche Auseinandersetzung mit Schuld, Vergebung und Macht«, sagt Tobias Bilz. In Bezug auf den Beschuldigten erteilt er den Forderungen aus dem Publikum nach Vergebung eine Absage: »Vergebung braucht Ehrlichkeit und eine entsprechende Haltung«, sagt er und erhält dafür Applaus.
Das Schuldbekenntnis im Gottesdienst sei nicht geeignet für tieferliegende Konflikte. Zudem müssten Mitarbeitende der Kirche ihre Einstellungen zu Sexualität und gelingender Sexualität reflektieren, fordert der Bischof. Es sei eine Form der Prävention, dass Kinder ihre Sexualität kennen und darüber sprechen können, bestätigt Sozialpädagogin Christiane Hentschker- Bringt eine gewisse Tabuisierung im Erzgebirge.
Der Kirchenvorstand will nun nach vorn schauen, sagt Kirchvorsteher Lutz Reichel. Ein Schutzkonzept sei in Arbeit und ein begleiteter Gemeindeprozess angestoßen. Dabei soll über verschiedene Themen der Gemeindeentwicklung wieder eine Gesprächsbasis für die gespaltene Gemeinde gefunden werden. Das erhofft sich Dorothea Landgraf nach diesem Abend auch für ihre Familie. Sie ist froh, dass ihr Vater nicht geschwiegen hat. »Die Dissonanz war Ernüchterung für mich, aber auch wichtig, dass es gesagt wird.«
Empfehlungen des Abschlussberichts:
Der Abschlussbericht der Unabhängigen Aufarbeitungskommission Pobershau gibt am Ende 22 Empfehlungen, die sich vor allem an die Landeskirche richten.
Die Themenbereiche sind beschrieben als:
• Wahrnehmung und fortgesetzte Enttabuisierung des Themas sexualisierte Gewalt als Teil kirchlicher und gesellschaftlicher Realität, Bagatellisierungstendenzen entgegenwirken
• Strukturelle Verortung des Themas innerhalb der Landeskirche und nachhaltige Bereitstellung von Ressourcen
• Betroffenenorientierte Intervention strukturell verankern und lokal implementieren • Vermittlung von Präventionszielen für Kinder und Jugendliche, Mitarbeitende und Kirchgemeinden
• Proaktive Aufarbeitung von institutioneller sexualisierter Gewalt
• Theologisch-seelsorgerliche Auseinandersetzung mit den Themen Schuld, Vergebung und Macht
Der Abschlussbericht ist hier online: t1p.de/bndmn
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