»Auch ich habe lebenslänglich«
Der Entzug der Freiheit soll auch dazu dienen, Einsicht in das Unrecht der Tat und die Folgen für die Opfer zu wecken. Auch Opfer brauchen Aufarbeitung. Doch wie sieht das in der Praxis aus? Eindrücke aus einem Täter-Opfer-Kreis.Der Linoleumboden eines typischen Einzelhaftraums in deutschen Gefängnissen hat eine Fläche von neun Quadratmetern. Gitter aus Stahlbeton verhindern den Sonneneinfall durch ein Fenster. »Auch vor dem Fenster meines Büros waren exakt diese Betongitterfenster«, sagt der ehemalige Gefängnisseelsorger der Justizvollzugsanstalt (JVA) Bielefeld, Adrian Tillmanns. »Der Blick nach draußen ist überwiegend grau.« Der Theologe hat 23 Jahre im Vollzug gearbeitet, bevor er im August in ein Gemeindepfarramt in Hamburg wechselte.
Ein Inhaftierter, der ein seelsorgerisches Gespräch mit ihm führen wollte, konnte nicht einfach an seine Tür klopfen. »Wir sind hier auch Behörde. Da gibt es Formularnummern. VG-51 ist der Vormelder, mit dem ein Gefangener neues Klopapier beantragen kann, eine Arbeitsstelle oder ein Gespräch mit dem Pfarrer.« Als Seelsorger wünscht sich Tillmanns, die Gesellschaft würde humanere Methoden des Umgangs mit Tätern anwenden. »Warum fällt uns immer nur Freiheitsentziehung ein? Das Motiv von Strafe hat sich extrem lange gehalten. Selbst Luther hat schon gesagt: ›Wer sein Kind liebt, der züchtigt es.‹ Irgendwann sollte uns doch mal was Besseres einfallen.«
Die Justizvollzugsanstalt (JVA) Bielefeld ist die größte in Deutschland. Der Gefängnispfarrer ist mit der Seelsorge in sieben Hafthäusern beauftragt. In jedem Haftraum liegt eine dünne, schmale Matratze mit einer Hülle aus pflegeleichtem blauen Gummi. Das WC in einer Ecke ist aus Stahl, das kleine Waschbecken auch. Manche Gefangene verbringen 23 Stunden am Tag in ihrer Zelle. »Es ist schon richtig Strafe, mehrere Jahre lang so einzusitzen«, findet Stefan Exner, grauer Bart, zurückgekämmte Haare. So einen Haft- raum hat er während eines Gefängnisbesuchs betreten, als Teilnehmer eines Täter-Opfer-Kreises. Jetzt steht der 57-jährige Kraftfahrer im Flur seiner Wohnung in einem hübschen Mehrfamilienhaus. Er öffnet die Tür und geht in Richtung Tatort. Über die schreckliche Situation, an die er sich sein Leben lang noch oft erinnern wird, spricht er nicht gerne. »Wenn man Hilferufe hört, dann muss man hin und helfen. Das geht gar nicht anders.«
Von der Straße aus blickt er eine steile Böschung hinauf. »Hier stand das Fahrzeug der Frau. Der Mann würgte sie am Hals, aber sie konnte noch panisch um Hilfe schreien. Erst mal habe ich laut gebrüllt: ›Ich komme!‹ Da hat er sie fallen lassen und ist in einem Satz diese Mauer hier hoch. Es ging sofort los. Er brüllte: ›Ich schlag dich tot.‹ Und das hat er dann versucht.«
Der athletische junge Mann packte den deutlich älteren Stefan Exner und schlug ohne jegliche Skrupel auf ihn ein. »Mir war sofort klar: Der ist psychisch krank und in einer Psychose.« Als Erstes bekam er einen Schlag auf die eine Augenbraue, dann auf die andere. Scheinbar endlose Minuten lang hatte Stefan Exner nur einen Gedanken: Überleben. »Bis dann endlich die Polizei auftauchte mit drei Streifenwagen.« Es folgten sechs Wochen mit Schmerzen und Krücken. Dann konnte Stefan Exner wieder normal gehen. Zwei Jahre später bekamen er und vier weitere Gewaltopfer eine Einladung zur Teilnahme an einem Täter-Opfer-Kreis in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede. Einer der Täter war sehr beeindruckt von Stefan Exners Geschichte. »Vor allem, dass er so Zivilcourage gezeigt hat und der Frau geholfen hat.«
Der junge Mann mit kurzen Haaren und blondem Bart hat die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens im Knast verbracht. Zehn Jahre geschlossener Vollzug, acht liegen noch vor ihm. Die Vorbereitungsphase für den Täter- Opfer-Kreis bestand aus vier Sitzungen, an denen einerseits fünf Straftäter teilgenommen haben. Parallel dazu trafen sich außerhalb der Justizvollzugsanstalt fünf Personen, die alle Opfer einer Gewalttat geworden waren. »Der Sozialarbeiter und die Psychologin der JVA haben uns wirklich gut betreut«, lobt Stefan Exner. »Es ging ja um brutale körperliche Gewalt.«
Der erste Täter-Opfer-Kreis in Deutschland wurde 2016 in der Justizvollzugsanstalt Oldenburg durchgeführt. Danach ermöglichte auch die JVA Bielefeld-Brackwede eine solche Erfahrung. Anfangs nahm der anonyme Häftling nur unter Vorbehalt teil. »Je länger wir uns vorbereitet haben, desto mehr Angst bekam ich. Hört sich vielleicht komisch an, wenn ein Täter sagt: ›Ich hatte Schiss, auf Opfer zu treffen.‹ Aber so war das.«
Zu dem eigentlichen Täter-Opfer- Kreis kam es dann in einem großen Saal der JVA, der sonst als Gottesdienstraum dient. Nie zuvor war der anonyme Häftling so direkt mit den Konsequenzen von Straftaten konfrontiert worden. »Wenn ich jetzt davon erzähle, merke ich schon wieder, wie mies ich mich damit fühle.« Stefan Exner war anfangs genauso nervös. Doch schon bald fühlte er sich richtig wohl in der Gruppe. »Ich hatte erwartet, dass da große, tätowierte Fieslinge reinkommen, die sich auf den Sesseln lümmeln und so eine Haltung mitbringen: ›Ja, Opfer, Versager. Ich bin besser.‹ Aber das war gar nicht so.«
Die Betroffenen sollten nicht »ihre« Täter wiedersehen, sondern die Möglichkeit bekommen, Menschen kennen zu lernen, die ähnliche Taten begangen haben. Dieses Konzept findet Stefan Exner gut: »Wir sind Menschen begegnet, die auf der anderen Seite der Gewalt stehen. Auch sie sind Opfer von Umständen. Damit will ich nicht rechtfertigen, was sie getan haben. Mord, Totschlag – das alles geht gar nicht. Aber ich habe das Gefühl, ein bisschen verstanden zu haben, wie es so weit kommen konnte.«
Für Betroffene kann es befreiend sein, Gewalttätern davon zu berichten, welche Konsequenzen die Tat für ihr Leben hatte. Stefan Exner erinnert sich an den Bericht eines Mannes, der einen Schlag auf den Kopf bekommen hat: »Mit einem Baseballschläger. Da sieht man heute noch die Delle. Es ging um die Einnahmen seiner Diskothek. Er lag ein Jahr lang im Koma. Da habe ich gedacht: Oh Scheiße. Es ist ja noch viel Schlimmeres möglich, als was ich erlebt habe.«
Der anonyme Häftling kannte die Berichte seiner Kameraden aus der Vorbereitung. Doch erst als er sie in der Anwesenheit von Betroffenen hörte, verstand er wirklich, welche Todesangst solche Taten auslösen. »Da habe ich erfahren, dass manche Menschen noch Jahrzehnte später Ängste mit sich rumtragen. Ein Fall lag zwanzig Jahre zurück. Und trotzdem kamen all die Emotionen immer noch hoch. Da denkst du dir: ›Mein Gott, was habe ich angerichtet.‹» Im Alltag einer Justizvollzugsanstalt wird vermutlich niemand so oft mit der Scham von Inhaftierten konfrontiert wie der Seelsorger. Adrian Tillmanns erlebt das immer wieder. »Wenn es um Leib und Leben ging, dann ist die Scham bei den Inhaftierten auch nach vielen Jahren noch spürbar.« Nach acht Stunden war der Täter- Opfer-Kreis zu Ende. Stefan Exner hätte gerne mehr Zeit gehabt. »Für uns alle war das eine bereichernde Erfahrung und ich bin mir sicher, dass wir eine positive Veränderung erreicht haben.«
Auch Adrian Tillmanns ist der Meinung, der Ansatz brauche mehr Fürsprecher: »Bis dato hat man immer gedacht: Der Täter muss weggesperrt und das Opfer muss geschützt werden. Es ist eine ganz neue Idee, solche Personen auch mal zusammenzubringen.«
Stefan Exner wünscht sich, dass es bald viel mehr Täter-Opfer-Kreise gibt, in allen Gefängnissen. »Wenn nur ein einziger von den Jungs im Leben nach dem Knast an einer Stelle mal zurückzuckt und denkt: ›Ich weiß doch, was das für Konsequenzen haben kann‹, dann nimmt er vielleicht nur die Kohle und haut ab, ohne jemandem den Schädel einzuschlagen.«
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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