Unterwegs zur Leichtigkeit
Wandern: Auf einer Wanderung im Spessart sucht unser Autor die Leichtigkeit. Im aufmerksamen Gang durch die Natur und beim Eintauchen in ein Naturschwimmbad spürt er eine tiefe Freude.Ich bin zu Fuß unterwegs zur Leichtigkeit. Die schrittweise Entlastung ist inspiriert von einem Wegweiser, der mir bei Wanderungen durch den Spessart aufgefallen ist: »Zum Naturschwimmbad«. Dort will ich hin, weil ich glaube: Stärker als Verletzungen oder Belastungen prägen Urbilder der Freude die Biographie. Ich bin überzeugt: Die Fähigkeit zur Ausgelassenheit wird wie Traumata über Generationen weitergegeben. Freilich gilt es, ihr immer wieder von Neuem nachzugehen. Ob der Wegweiser dorthin führt, wo ich mich als Kind unwiderrufbar zuhause fühlte? Das waren Freibäder, deren Wasser von Bächen gespeist wurden. Dazu umgaben Baumgrünhänge die Becken. Das berauschte mich so sehr, dass dem keine andere Urlaubsensation das Wasser reichen konnte.
Der Regionalexpress transportiert mich aus der Stadt hinaus, die über Flächen verfügt, die die größten Lasten des Landes tragen dürften – so hoch ragen die Häuser auf. Nach einer Stunde drücke ich auf Grün, die Tür öffnet sich, ich steige mitten im Hochspessart aus. Der direkte Weg zum Schwimmbad durch das überschaubare Heigenbrücken allerdings würde meinem Weg zur Leichtigkeit einen wichtigen Schritt rauben: das Zögern. Ich wähle den Philosophenweg. Sein Erfinder Johann Bialdyga hat ihn nach Poeten und Geistesgrößen benannt, die in Heigenbrücken logierten: »Er verläuft abseits der Waldautobahnen.« Mit Autobahnen meint der Wegewart des Spessartbunds breite Forstwege. Der Pfad, markiert mit einer Feder, schlängelt sich durch das größte Laubmischwaldgebiet Deutschlands. Nur unterwandert er den Ruf vom Spessart als finsteren Räuberwald. Denn immer wieder zeigt der Wald Weitsicht, gibt den Blick frei. Das lässt an Wilhelm Hauffs Märchenbuch »Wirtshaus im Spessart« denken, das die Charakterisierung des Spessarts als Dauerdunkelwald maßgeblich prägte. Denn auch Hauff unterbricht das nächtliche Terrain seiner Rahmengeschichte fortlaufend, indem er die Reisenden einander fantastische Geschichten aus dem Ausland erzählen lässt. Der Blick in die Ferne erhellt die Angst, verwandelt sie, lässt sie vergessen.
An einer Ruhebank vorbei, die dem Dramatiker Gerhart Hauptmann gewidmet ist, geht es zur Kleinen Mariengrotte. Nirgendwo ist die Marienfrömmigkeit lebendiger als in Unterfranken, zu dem der Spessart gehört. Die Grotte feiert die Erleichterung, ohne das Schwere zu leugnen. Aus Dankbarkeit ist sie entstanden, weil ein Soldat nicht im Krieg geblieben ist, sondern nach Heigenbrücken heimkehrte.
Der nadelübersäte Pfad führt abwärts in das schmale Tal der Kurzen Lohr. Helles Blau hebt sich unwirklich vom Grün ab. Trotzdem wirkt das nicht schreiend gegensätzlich, sondern harmoniert. Als ob der Himmel ein Wohnrecht auf der Erde gefunden hätte. Das Wassertretbecken führt zu einer Trennung, die die eben noch verbundenen Parteien gleichermaßen erleichtert. Die Wanderstiefel pausieren. Genauso ich, der barfuß durchs Wasser spaziert. Wie ein Storch gilt es laut Pfarrer Kneipp das Becken zu durchschreiten. Was nicht länger als 60 Sekunden dauern soll. Schließlich sei das Wasser nicht dazu da, das Empfindungsvermögen auszuschalten. Statt im Kaltwasser einen Rundenrekord anzustreben, geht es um einen Genuss, der aus der Kürze kommt.
Der Wunsch nach Ankunft wächst, denn steil führt der Weg nun hinauf. Doch noch vor Erreichen des Ziels wartet die Philosophenbank unter einer üppigen Eiche. »Von dort haben sicher auch Joseph von Eichendorff und andere Dichter den Blick ins Tal genossen«, sagt Johann Bialdyga. Allerdings legt keine Erklärungstafel die Philosophie dieses Ortes fest. Der Wanderer darf sich also beim Schauen über das Waldwellenmeer einen eigenen Reim machen, was unter der Liebe zur Weisheit zu verstehen ist. »Die Welt ist viel zu schön, um zum Zyniker zu werden«, lautet das, was der Ort mir mitteilt.
Wieder im Wald lasse ich mich abwärts treiben. Im Tal empfängt mich das Bad, das seit 1929 als erstes Schwimmbad im Spessart betrieben wurde. Das Quellschwimmbad war eine Attraktion in dem Luftort. 2005 übernahm es ein Verein ehrenamtlicher Bürger, die das Gelände in ein Naturbad umbauten, das seit seiner Wiedereröffnung ohne Chlor auskommt. Liegt das am Lohrbach, der sich durch die Wiese schlängelt?
Ich bin in die Sommerbäder meiner Kindheit eingetreten, hänge aber nicht in Erinnerungen fest. Wie kaum einmal sonst spüre ich die Gegenwart. Von den hölzernen Liegestühlen wandern die Blicke an den Waldhängen entlang, die einen nie zu überwuchern drohen, sondern Abstand halten. Fast wie ein Schutzraum wirken sie. 50 Cent kostet es, die neun Bälle des Tischkickers ins Spiel zu bringen. Außerdem gibt es einen Kiosk, der weit mehr als Wasser im Angebot hat. Ich gehe ins Wasser, das glasklar ist, um die heilige Zeremonie der Leichtigkeit auszukosten. Das Wasser tut nicht so, als ob es keine Tiefe hätte. Und doch ist es eben dieses Wasser, das mit dem Versprechen lockt, einen zu tragen. Dazu bedarf es Demut. Totale Ergebenheit oder ein Sich-Ausliefern ist damit nicht gemeint, das wäre fatal. Der Mensch ginge unter. Also bewege ich mich, beginne zu schwimmen und sage damit Ja zum Leben. Nur pflüge ich nicht durchs Wasser, als ob es ein Gegner wäre. Ich bewege Hände, Arme und Beine sorgsam langsam durch das Element, das leise spricht. Zwischen den Schwimmzügen strecke ich mich, so lang ich kann. Und wage, für Augenblicke still zu halten. Alles lasse ich frei, werde federleicht und erlebe, wie jemand gleich mehrfach zu mir sagt: Ja.
Georg Magirius arbeitet freiberuflich als Theologe und Schriftsteller in Frankfurt am Main. In seinem jüngsten Buch »Frankenfreude« besucht er 33 überraschend schöne Orte, darunter das Naturbad Heigenbrücken. Auch leitet er spirituelle Wanderungen
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