Mut zum Leben
Gespräch: In jedem ist Mut als Möglichkeit angelegt – wenn er uns nicht schon in der Kindheit aberzogen wurde, sagt Rotraud A. Perner. Im Interview spricht die Psychotherapeutin darüber, dass Mut nicht immer die richtige Entscheidung ist und wie wir lernen können, mutig zu sein.Frau Perner, Mut gilt in unserer Gesellschaft als gute Eigenschaft, wer mutig ist, ist ein Vorbild. Woher kommt diese Bewertung?
Rotraud A. Perner: Das positive Image von Mut hat eine lange Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Da kommt Mut allerdings vor allem als männlicher Heldenmut vor, und den müssen wir dringend unterscheiden vom Mut als in uns angelegter Eigenschaft. Aus meiner Sicht ist das Lob von Heldenmut reine Kampf-Propaganda.
Warum?
Damit wurden und werden Männer motiviert, sich im Kampf besonders hervorzuheben, also etwas zu tun, das sie normalerweise nicht tun würden. Da geht es nicht um etwas Instrinsisches, sondern um Fremdbestimmung und Manipulation.
Und wodurch zeichnet sich der andere Mut aus? Der innere?
Das ist der Mut, mithilfe dessen wir eine bewusste Entscheidung treffen, nachdem wir verschiedene Möglichkeiten abgewogen haben und bereit sind, sogar eventuelle Nachteile in Kauf zu nehmen. Es ist ein inneres Abwägen zwischen der Gefahr und dem Gewinn.
Warum sind manche Menschen mutig und andere nicht?
Das hat mit Erziehung und Erfahrung zu tun. Denn eigentlich ist in jedem Menschen von Beginn an Mut als Option angelegt, etwa in dem Gespür für Ungerechtigkeit oder in einer gewissen Wehrhaftigkeit, also dem »Nein-Sagen-Können« zu Dingen, die man nicht möchte. Kleine Kinder können das noch ziemlich gut, sie sind quasi von Natur aus mutig und stehen für sich ein, ohne groß darüber nachzudenken. Wenn sie aber immer häufiger merken, dass ihre wehrhaften Reaktionen abgelehnt werden, man ihnen das Nein verbietet oder es übergeht, dann hat das auch Einfluss auf ihren Mut.
Die Gesellschaft belohnt Mut und zerstört ihn gleichzeitig?
So kann man es sehen. Wobei das meist gar nicht aus böser Absicht passiert, sondern aus einer Höflichkeitserziehung heraus. Denn Mut wird nicht nur bei Kindern häufig als Unhöflichkeit verstanden. Das liegt an der ambivalenten Natur des Muts: Einerseits braucht es Mut, um die eigenen Grenzen zu setzen. Zu sagen, was man denkt und will. Und andererseits hat Mut auch immer etwas mit Grenzüberschreitungen zu tun.
Wofür brauchen wir denn Mut?
Mut ist ein Antrieb. Wenn wir mutig sind, werden Adrenalin und Endorphin ausgeschüttet. Manchmal erlebt man im Endorphin-Rausch der Grenz- überschreitung ein »High«, ein Hochgefühl – nicht zu verwechseln mit einer Dopaminausschüttung, die ich eher als Zufriedenheitsmarker bezeichnen würde und die vielleicht bei einer Siegesehrung entsteht. Wir brauchen Mut, um nicht aufzugeben, um etwas zu beenden, um uns einzusetzen, um uns zurückzuhalten. Im Grunde erfordert jede Entscheidung, die mit unseren Werten und Vorstellungen übereinstimmt, Mut.
Warum sind manche Menschen mutiger, wenn sie Alkohol getrunken haben?
Das sind sie gar nicht. Menschen sind nicht mutiger, sondern enthemmter, wenn sie getrunken haben. Der Alkohol wirkt wie eine seelische Entlastung. Das ist ein Verlust der Selbstkontrolle – je nach Schweregrad entsteht dabei Unzurechnungsfähigkeit.
Fallschirmspringen, vor großem Publikum sprechen, den Job wechseln: Was für den einen mutig ist, ist für die andere Alltag. Wer entscheidet darüber, ob etwas mutig ist oder nicht?
Mut ist bei jedem anders und kann auch in jeder Situation anders bewertet werden. Ob es von uns Mut erfordert, etwas zu tun, zum Beispiel eine SMS an jemanden zu schreiben, hängt von mir selbst ab und von dem Vertrauen zur anderen Person, davon ob sie zum Beispiel wohlwollend oder kritikfähig ist. Je mehr auf dem Spiel steht, je wichtiger uns etwas ist, desto mehr Mut ist erforderlich.
Was ist das Gegenteil von Mut?
Besonnenheit, Zurückhaltung, Selbst- wie auch Fremdfürsorge, Verzicht auf narzisstischen Imagegewinn, zum Beispiel. Feigheit hingegen ist ein herausforderndes Schimpfwort und nicht das Gegenteil von Mut. Mut ist wirklich auch immer zu hinterfragen. Wem nützt er und habe ich die passenden Ressourcen dafür? Völlig unvorbereitet und ohne das richtige Equipment einen Berg zu besteigen, ist nicht mutig, sondern dumm. Einer gefährlichen Situation aus dem Weg zu gehen, zum Beispiel nachts nicht allein durch den Park zu gehen, hat nichts mit Feigheit zu tun, sondern damit, Gefahren realistisch einzuschätzen oder vielleicht auch einem unguten Gefühl zu vertrauen. Wie kann ich Mut lernen?
Durch Selbstreflexion und über die Erfahrung. Sie müssen diesen Prozess der Abwägung, Entscheidung und dann das Leben mit den Folgen wieder und wieder durchlaufen. Das ist anstrengend! Aber es lohnt sich, weil Sie spüren, dass Mut sich auszahlen kann. Der erste Schritt ist das wahrnehmen, was ist, ohne zu dramatisieren oder verharmlosen. Im zweiten Schritt werden die Verhaltensalternativen und die damit verbundenen Folgen bedacht. Dann trifft man die für sich selbst beste Wahl. Und schließlich, das ist Schritt vier, übernimmt man die Verantwortung für seine Entscheidung, das heißt, ich kann sagen, weshalb ich mich so entschieden habe.
Nelson Mandela soll gesagt haben: »Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern der Triumph über sie.«
Damit hatte er Recht, das ist Teil des Abwägungsprozesses, über den wir schon gesprochen haben. Ohne Angst und Bedenken ist Mut in Wahrheit nur Draufgängertum.
Was passiert in uns, wenn wir den Mut verlieren?
Wenn wir zu wenig Zuwendungsenergie bekommen, wenn wir depressiv werden, dann können wir den Mut verlieren. Ich habe das in meiner Laufbahn leider häufig gesehen bei Menschen mit Depressionen, Menschen, die suizidal sind. Da kann man dann wirklich sagen, dass sie mutlos sind. Ihnen fehlt die Kraft, für sich einzustehen, abzuwägen und zu entscheiden. Ihnen fehlt die positive Sicht und damit der Grund aufzustehen. Das kann hormonelle Ursachen haben, es kann an den Beziehungen liegen, die man hat, an schockierenden Erlebnissen, der Weltlage … es ist immer ein Verlust der positiven Stimmungslage und des Antriebs. Beides sind Arten der inneren Energiebilanz – und die ist beeinflussbar von außen wie von innen. Und was ist, wenn wir mutig sind, etwas wagen und dann scheitern? Tja, das ist die große Herausforderung an Selbstakzeptanz und Selbstliebe! Es besteht immer die Gefahr zu scheitern. Aber trotzdem sollte man probieren, was einem wichtig ist.
Rotraud A. Perner, geboren 1944, ist promovierte Juristin und Master of Theology. Sie ist lizensierte mehrfach ausgebildete Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin sowie Gesundheitspsychologin, akademisch zertifizierte Erwachsenenpädagogin und diplomierte Sozialtherapeutin. Sie ist Autorin zahlreicher erfolgreicher Bücher, darunter »Mut: Das ultimative Lebensgefühl«. Amalthea Verlag 2016.
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