»Eine Nacht des Friedens«
Der Fall der Mauer am 9. November vor 35 Jahren – welche Träume, Visionen und Enttäuschungen waren damit verbunden? Die Journalisten Bettina Röder und Willi Wild erinnern sich und fragen, was daraus geworden ist.Bettina Röder: In der Nacht der Maueröffnung bin ich in Berlin – wie so viele – zur Grenze gefahren. Wildfremde Menschen sind sich in die Arme gefallen, ich erinnere mich an die fröhlichen Gesichter. Es war eine Nacht des Friedens. Irgendwann habe ich dann spät abends mit meinem Mann eng umschlungen unter dem Brandenburger Tor gestanden. Wir waren ja seit Langem ein deutsch-deutsches Paar: ein West-Journalist und eine Ost-Berliner Journalistin. Wir baten einen Kollegen von einer Nachrichtenagentur, dass er eine Aufnahme von uns macht. Er hat uns fotografiert, aber das Foto haben wir nie gesehen. Der Kollege hatte in dieser Nacht vor Aufregung den Film vergessen. Es gibt übrigens kaum einen Menschen im Osten, aber eben auch im Westen, der sich nicht an diese Nacht erinnert.
Willi Wild: Genauso ist es! Ich war an diesem 9. November abends, wie jeden Donnerstag, im Posaunenchor in meinem Heimatort im fränkischen Puschendorf. Als ich nach Hause kam, da waren meine Eltern schon etwas in Aufregung, weil irgendwas passiert sein musste, was man noch nicht so richtig einordnen konnte. Im ZDF-»heute-Journal« wurde zunächst von Reisefreiheit gesprochen, Günter Schabowski las den berühmten Zettel vor. Später, in den »Tagesthemen« der ARD, hieß es noch, dass man »ab Freitag acht Uhr« reisen könne. Die Sensation des Mauerfalls wurde mir tatsächlich erst am nächsten Tag bewusst. Eigentlich wollte ich zur Öffnung des Brandenburger Tors nach Berlin fahren. Leider hat das dann nicht geklappt.
Erst 1990 bin ich dann als Volontär mit einem Kollegen nach Rostock gereist und von dort durch die DDR, um die Radiokollegen für eine Hörfunk-Serie zu besuchen. Die letzte Station war Weimar. Ich hatte mir damals gedacht, wenn ich mir den Arbeitsort aussuchen könnte, dann würde ich entweder in Weimar beginnen oder in Potsdam bei Antenne Brandenburg. Ich war von der Aufbruchstimmung und der Frische der Programme begeistert. Am 1. Januar 1992, mit dem Start des Mitteldeutschen Rundfunks, habe ich dann tatsächlich in Weimar als moderierender Redakteur angefangen. Voller Träume und Ideen.
Bettina Röder: Ich habe damals unmittelbar nach dem Mauerfall tatsächlich von einer Welt ohne Gewalt geträumt. Nach der Friedlichen Revolution dachte ich, Konflikte im Land und auch international könnte man ohne Gewalt, ohne Krieg lösen. Und dann stand 1990 der zweite Irakkrieg bevor. Freunde sind als lebende Schutzschilde in das Land gefahren. Doch alles, auch der gewaltfreie Widerstand, nützte nichts. Das war diese große Ernüchterung. An die Kraft der Gewaltlosigkeit glaube ich trotzdem bis heute.
Willi Wild: Ich war mit meinen 23 Jahren sehr neugierig auf alles, was ich im Osten damals kennenlernen konnte. Meine Maxime war von Anfang an: Miteinander arbeiten und leben und dabei voneinander lernen. Ich träumte davon, dass man die Chance nutzt, um etwas wirklich Neues zu schaffen, und dass man nicht die alten Strukturen des öffentlich-rechtlichen West-Rundfunks übernimmt. Es gab auch viele gute Ideen, die trotz aller Widrigkeiten zunächst umgesetzt werden konnten. Leider ist es dabei nicht geblieben. Der Pioniergeist wurde zum Teil im Keim erstickt.
Bettina Röder: Das kostbarste Gut, das wir erkämpft haben, ist die Demokratie. Sie ist Garantie für eine Gesellschaft, in der jede und jeder ein Recht auf Achtung und Menschenwürde hat. Das gilt es, wie auch die erkämpfte Pressefreiheit, gegen ihre Feinde zu verteidigen. Meine große Enttäuschung war aber damals, dass es keine Wiedervereinigung auf Augenhöhe gegeben hat, sondern nur einen Anschluss. Die zweite Ernüchterung war, dass das Diktat des Geldes alles beherrschte. Es ist ja leider bis heute so: Wer Geld und Besitz hat, der hat auch nicht selten das Sagen. Besitz und Geld sind aber bis heute vor allem im Westen. Das ist der 1989 erkämpften Demokratie nicht zuträglich.
Ich glaube dennoch, die Unterschiede zwischen Ost und West sind nicht nur Defizit, sondern auch Reichtum. Welches Land kann sich über die unterschiedliche Geschichte, unterschiedliche Sozialisation und vieles mehr in einer Sprache austauschen? Ich finde es fatal, dass erst die Wahl- erfolge der AfD im Osten das Thema Ost-West-Unterschiede wieder auf die mediale Agenda gehoben haben. Lange Zeit hieß es, sie hätten sich erledigt. Das hat dem Zusammenleben der Deutschen in Ost und West nicht gutgetan.
Willi Wild: Ich wünsche mir, dass die einseitige Berichterstattung, in der der Osten als Dunkeldeutschland dargestellt wird, objektiver wird. Ja, es gibt momentan 30 Prozent AfD-Wähler, aber 70 Prozent sind es nicht. Mir kommt einfach zu kurz, dass hier eine Mehrheit vernünftiger Menschen lebt, die etwas zu sagen haben. Die Mauer haben ja nicht die Westdeutschen zum Einsturz gebracht, sondern die vielen Mutigen, die im Osten auf die Straße gegangen sind.
Bettina Röder: Und schon einiges aus dieser Bewegung – übrigens oft mit Freunden aus dem Westen – ist seit dem Mauerfall erreicht: Etwa der Aufschwung, den »Mehr Demokratie« seit 1989 genommen hat. Es geht um die Volksabstimmungen, die inzwischen auch in den alten Bundesländern eine Erfolgsgeschichte sind. Ich denke an die große Erfolgsgeschichte der Rettung der Naturschutzgebiete im Osten, buchstäblich fünf vor zwölf vor dem Einigungsvertrag.
Willi Wild: Dabei wird gebetsmühlenartig immer an den Gedenktagen erzählt, man möge doch auch mal in den Osten fahren. Ich kann kaum glauben, dass es heute immer noch Westdeutsche gibt, die noch nie hier waren. Man kann sich nur kennenlernen und Vorurteile abbauen, wenn man sich begegnet. Ein gutes Beispiel sind da die Partnerschaften von Kirchengemeinden, die zum Teil schon seit über 40 Jahren bestehen.
Bettina Röder: Oft waren sie ja angesichts der Mauer die einzigen Brückenbauer zwischen Ost und West. Diese Rolle der Kirchengemeinden im Kalten Krieg ist in der Öffentlichkeit leider weithin vergessen. Ebenso wie die Rolle der ostdeutschen Kirchen und deren Bedeutung bei der Friedlichen Revolution.
Das wird im »SONNTAG«, in »Glaube + Heimat« und anderen Medien thematisiert, aber letzten Endes ist die Bedeutung der Kirche mit ihrer lange vorgedachten Friedensethik nicht mehr im öffentlichen Bewusstsein. Da hat es am Ende der DDR drei Ökumenische Versammlungen mit Impulsen für die Zukunft Europas gegeben, wie der Erfurter Propst Heino Falcke einmal gesagt hat. Mit Erklärungen, die bis heute hochaktuell, aber leider vergessen sind.
Willi Wild: Hinzu kommt: Wer sich im Osten zur Kirche bekannt hat, der hat das nicht aus Tradition getan. Das war ein mutiges Bekenntnis, das mitunter existentielle Konsequenzen zur Folge hatte. Die Minderheiten-Situation ist im Osten nichts Neues. Aber deshalb muss man sich nicht verzwergen und jammern, dass wir ja angeblich nur noch ganz wenige sind.
Das stimmt nicht. Mitgliederzahlen zeigen, dass es sich nach wie vor um die größte organisierte zivilgesellschaftliche Gruppe handelt. Die Kirchen erfüllen eine wichtige gesellschaftspolitische Funktion in Ost und West. Sie tragen viel zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Da ist durchaus mehr Selbstbewusstsein angezeigt.
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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