Die Weggegangenen haben die Veränderung erzwungen?
Der Frühling, der zu zeitig kam
Aufbruch: Der »Prager Frühling« ließ vor 50 Jahren viele Hoffnungen auch unter ostdeutschen Christen blühen – und manche sterben. Sie wurden Vorboten der Friedlichen Revolution. Drei Erinnerungen.Harald Bretschneider:
Zur Zeit des »Prager Frühlings« baute ich mit meiner Brigade ein Kraftfuttermischwerk. Als Theologiestudent hatte ich den Wehrdienst total verweigert und erklärt, die Gesellschaft nicht militärisch, aber wirtschaftlich zu stärken. Darum arbeitete ich nach dem Examen als Bauhelfer, später Zimmermann.
Vom Liberalisierungs- und Demokratisierungsprozess in der CSSR unter Alexander Dubcek zu einem »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« erhoffte ich, dass sich auch die DDR-Gesellschaft veränderte. Mich begeisterten die Reformen wie die philosophischen Gedanken des reformkommunistischen Professors Milan Machovec in seinem Buch »Jesus für Atheisten«. Wie anders war es bei uns: Wolf Biermanns Parteiausschluss und Auftrittsverbot, Robert Havemanns Entlassung als Professor und Hausarrest. Dann kam das Trauma der Okkupation der CSSR. Zuerst suchten wehrpflichtige Soldaten, nach längerem Feldlager und Verlegung an die tschechische Grenze, postalisch meinen seelsorgerlichen Rat. Dann sah ich vom Gerüst aus, wie Militärtransporte in Richtung Süden erfolgten. Schließlich hörte ich im Deutschlandfunk am 21. August 68: Der »Prager Frühling« wurde durch militärische Intervention der UdSSR und vier weiterer Staaten niedergeschlagen. Es war zum Heulen. Die Selbstverbrennung von Jan Palach wie 94 Todesopfer des Einmarsches in Prag durften nicht vergessen werden.
Gott sei Dank wurden die NVA-Truppen nicht eingesetzt. Gott sei Dank, dass trotz aller Verfolgung und Repressalien viele der Träger des »Prager Frühlings« zu Trägern der Charta 77 und der sich weiter formierenden Bürgerbewegung in der CSSR wurden.
Harald Bretschneider
Harald Bretschneider (76) war als Landesjugendpfarrer in Sachsen einer der Initiatoren der DDR-Friedensbewegung.
Gisela Kallenbach:
Spannende Nachrichten erreichten uns im Sommer 1968 aus der Tschechoslowakei. Da gab es von »oben« gesteuerte und von Bürgerinnen und Bürgern unterstützte Bemühungen zur Einführung eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz«. Menschlich bedeutete: Reisefreiheit, Pluralität der Medien, Ansätze für demokratische Prozesse. Konnte das ein Beispiel für die DDR werden?
Und dann die Nachrichten, dass die NVA mobilisiert hatte; dass Wehrpflichtige auf einen möglichen Einmarsch zur Niederschlagung dieser freiheitlichen Bestrebungen vorbereitet wurden. Das ist nicht passiert, aber sowjetische Panzer haben das Ihre geleistet. Der Traum war ausgeträumt, totale Ernüchterung, ohnmächtige Resignation und Lähmung waren die Folgen. Es sollten noch viele Jahre vergehen bis zur Charta 77, bis zum Gorbatschow der 80er Jahre. Auch ich begann erst Anfang der 80er Jahre, mich gegen Diktatur und Ausgrenzung zu wehren.
Gisela Kallenbach
Die Leipzigerin Gisela Kallenbach (74) war Bürgerrechtlerin und Abgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen.
Wolfgang Thierse:
Mit wachsender Spannung und ganz viel Sympathie verfolgte ich 1968 über Westmedien die Entwicklungen in Prag, die Auftritte und Äußerungen von Alexander Dubcek, Joseph Smrkovsky, Ludvik Svoboda: Reform des staatssozialistischen Systems, mehr Meinungsfreiheit, mehr Demokratie, mehr Markt! Da wurde auch unsere, meine Sache verhandelt. Wenn das dort erfolgreich wäre, dann könnte, dann müsste das doch auch ansteckende Wirkungen bei uns in der DDR haben! Das war meine heftige Hoffnung.
Umso bestürzender dann die Niederschlagung des »Prager Frühlings«, umso beschämender die mit Lüge und Druck erpressten Zustimmungserklärungen zu diesem Unrechtsakt in der DDR. Eine tiefe Enttäuschung war mein Grundgefühl und seitdem der Zweifel daran, dass das sozialistische System überhaupt reformierbar sei und Änderungen wohl nur möglich, wenn sie in dessen Zentrum, in Moskau, beginnen würden.
Wolfgang Thierse
Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse (74) war Präsident des Bundestages.
Sie oben!
Natürlich hat auch die Vielzahl der Weggegangenen mit dazu beigetragen die Veränderung zu erzwingen, über ein Ausbluten der DDR, über medial wirksame Bilder etc. Das zu leugnen ist völlig realitätsfremd.
sehr geehrter Herr Beobachter,
übrigens: Wenn Sie mich schon zitieren, dann bitte richtig: Ich hatte geschrieben, dass zu den Hier-bleiben-Wollenden die Stimmen der Enttäuschten d a z u k a m e n . Damit war der Traum vom menschlichen Sozialismus nicht ausgeträumt; es kam - wie Herr Flessing richtig schreibt - die Einsicht dazu, dass der menschliche Sozialismus nicht an der Idee, sondern am Menschen scheitert. Das unterscheidet ihn allerdings nicht vom Bild der menschlichen Gesellschaft, das die Bergpredigt entwirft. Auch dieser Traum scheitert - jedenfalls bisher - am Menschen, die ihn leben sollen.
Johannes Lehnert
Ja Träume sind Schäume! In diesem Fall wohl eher vollkommen unrealistsisch?
"Auch anderenorts sind ja sozialistische Versuche gründlich schief gegangen. Auch die "Diktatur des Proletariats" ist letztlich eine Diktatur." schreibt da Gert Flessing ganz eichtig!
Sozialismus mit menschlichem Antlitz?! Diese Larve ist dem Sozialismus in all seinen Spielarten mehrfach in der Weltgeschichte vom Gesicht gerissen worden. Wie viele Millionen Tote hat der Sozialismus auf dem Gewissen? Es funktioniert eben nicht mit "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen", wie die Realität zeigte. Denn es wird der natürliche Unterschied zwischen Menschen, unterschiedlicher Fleiß und unterschiedliches Bemühen dahingehend nivelliert, daß den Tüchtigen genommen wird, um den Untüchtigen zu geben (und sich nebenher noch eine ganze Houte-Voulez - alle sind gleich, manche gleicher - alimentierte), so daß die Motivation der Tüchtigen leidet, was sich wiederum auf die gesamtgesellschaftliche Produktivität legt und mittelfristig Armut für alle (bis auf die Gleicheren) bedeutet.
Zudem, die Ziele des Sozialismus sind so verschieden zu den Zielen des globalen Kapitalismus auch nicht: no borders no nations - manch sich sozialistisch wähnender Trottel merkt gar nicht, daß er zum Straßenbüttel für die Finanzelite wird.
Bei dem Prager Frühling ist mir besonders in Erinnerung wie die 68er (West) meist negativ reagierten. Ihre Ideologen äußerten die Bewegung der Tschechoslowakei mir der Leitfigur Dubcek geht in die falsche Richtung. Wollte man doch einen Sozialismus / Kommunismus wie dem des späteren im Kambodscha, wo nicht wenige den roten Schlächter Pol Pot und seine Ideen huldigte und Mao ohnehin. Die 68er, aus denen gradlinig Januar 1980 die Grüne Partei hervor ging und es ist daher für mich widersprechend, boshaft wenn eine Grüne Politikerin, wie die Leipzigerin Gisela Kallenbach sich hier äußert, zu diesen Prager Traum von Januar bis 20. August 1968.
Sie am 28. März 1944 geboren, doch Bürgerrechtlerin erst seit den 80 er Jahren (seit Gorbatschow) dafür das Bundesverdienstkreuz am Bande erhielt und doch nicht für 1968 oder es wäre dann der größte ein Witz. Als Grüne 2004-09 im EU Parlament, wo in der Fraktion wo sie gesessen wohl kaum ein Tscheche oder Slowake sitz. Keiner der damals jungen Dubcek Anhänger und deren Politik heute bei unseren Grünen Politikern zu Schnappatmung führt. Tscheche und Slowake brutal unter Druck setzen möchten, betreff Flüchtlinge oder Kernenergie usw. soviel zur Grünen Gisela Kallenbach.
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