Gott auf hartem Pflaster
Die Wahrheit des Evangeliums zeigt sich für die Meißener Gerry und Blanca Dueck auf der Straße. Eine Fahrt mit ihrer Kirche auf Rädern zu den Menschen, die oft am Rande stehen – und fast nie in einem Gotteshaus.10:10 Uhr Klar, Jesus hat Fisch und Brot an die Menschen verteilt und kein Letscho. Aber Jesus war auch nicht in der Ex-DDR unterwegs, dort ist Letscho in der Soljanka Pflicht. Blanca Dueck (49) hat das erst lernen müssen. Die Mexikanerin lässt den Riesenrührbesen im Suppentopf kreisen. Ihr Mann Gerald, denn alle nur Gerry nennen, wirft sich schnell die Strickjacke mit dem Wappen der Heilsarmee über und steigt mit seiner Frau in den feuerroten Transporter: ihre Kirche auf Rädern. Da draußen auf den Straßen, da sind sie sich sicher, will Jesus seine Kirche auch heute haben.
10:55 Uhr Der Beyerleinplatz in Meißen ist ein lautes Dreieck mit Park und Bänken und rauen Stimmen. Gerry klappt das Vordach der rollenden Kirche hoch und klappert die Bänke ab. »Hallo, heute gibt’s Soljanka«, sagt der kleine Mann mit dem Schnauzbart. »Wollt Ihr mit zu einer kleinen Andacht kommen?« – »Och, nee«, schnauft ein Hüne im Trainingsanzug und wendet sich seinem Pils zu. Rainer dagegen neben ihm nickt nachdenklich.
Einige Minuten später steht der Heilsarmee-Offizier ziemlich einsam im kühlen Wind vor seiner roten Suppenkirche, in der seine Frau schon die Töpfe anrührt. Er hat die Geschichte vom barmherzigen Samariter in seiner zerschlissenen Bibel aufgeschlagen. Sachte tasten sich immer mehr Mühselige und Beladene auf dem Fußwegpflaster herzu. So wie Rainer. Oder Carmen, die Raumpflegerin mit den leuchtend roten Pferdeschwanz.
Den Nächsten lieben, das ist schon schwer genug, sagt Gerry in seiner eigentümlichen Sprache aus dem amerikanischen und friesischen Deutsch seiner Ahnen. Und dann noch Gott lieben? Dietmar mit der erdbraunen Lederjacke zieht den Zigarettenstumpf aus den Zahnlücken und ruft: »Man kann nicht jemanden lieben, den man nicht sieht!«
Aber als Gerry ein Gebet spricht an diesen unsichtbaren Jesus, ihm dankt für seine Gegenwart, für den Kaffee und die Suppe – da faltet auch Dietmar die Hände. Am Ende sagt er: »Amen«. Der Geist der Soljanka dampft schon.
12:30 Uhr Rainer hört so gut wie jede Woche zu, wenn Gerry Dueck im Straßenlärm aus der Bibel erzählt. Man sieht ihm seine guten Tage noch an. Wenn er von den Tagen erzählt, die danach kamen, zeigt sein Arm senkrecht zum Pflaster. Arbeit weg, Haus weg, Frau weg, der Sohn meldet sich auch nicht. Keine acht Jahre hat das gedauert. Blanca Duecks Suppe in der fahrbaren Kirche am Dienstag wärmt ihn ein wenig.
Der kleine Mann mit der runden Brille und dem Zigarillostumpen in der Hand ist heute zum ersten Mal da. Christ ist Bernhard nicht. Was die Bibel und die Pfarrer in den Kirchen sagen, versteht er nicht. Was Gerry Dueck über die Liebe zum Nächsten und zu Gott sagte, das versteht er. Und öffnet nach etwas Anlauf sein Herz: Er erzählt von seinem Vater, der Kommunist und Volkspolizist war und dessen Seele an der Wende zerbrach. Und von seiner Mutter, die alt und krank in einem kirchlichen Heim lebt, bei den Andachten dort singt sie neuerdings mit.
Gerry Dueck hört still zu und sagt: »Vor Gott ist das viel wert.« Dann geben sie sich die Hand, lang und fest. Gerry klappt das Vordach des Wagens zu. Bernhard wird wiederkommen.
13:05 Uhr Rückfahrt in die Basisstation der Kirche auf Rädern. Ein mit Geschmack saniertes Gewölbe in einem Bürohaus mit Blick über die Elbe zum Meißener Dom. Blanca Dueck wirft für die nächste Tour den Herd für die Soljanka an. Die allermeisten Kosten für all das bezahlt der evangelische Rechtsanwalt von nebenan, der zusammen mit den Duecks vor zwei Jahren die Idee für die Kirche auf Rädern hatte.
Vier Tage die Woche ist sie seitdem unterwegs: Mit festen Haltestellen in Coswig, Oschatz, vor einem Freitaler Bahnhof und bei Flüchtlingen in Freiberg. Da steht Gerry Dueck, in Kanada geboren als Kind mennonitischer Auswanderer, der seinen Glauben einst verloren hatte und wiederfand. Und das gesicherte kanadische Leben mit eigenem Elektromarkt und gutem Geld zusammen mit seiner Frau und zwei Kindern aufgab für die Heilsarmee. Ein bescheidener Abenteurer mit Liebe zum Rock ’n’ Roll. Und zu Jesus.
13:55 Uhr Gerry und Blanca Dueck biegen mit ihrer feuerroten Kirche am Rand von Großenhain in einen toten Weg. Hinter einer alten Fabrikhalle liegt der Nix-Platz, er heißt wirklich so. »Gerry, komm her, mein General«, dröhnt von der Bank Heiko, ein Bär mit weißem Zopf, in dessen Armen der kleine Heilsarmee-Offizier fast verschwindet. »Das hier ist menschliche Scheiße«, skizziert Heiko die Situation, »aber die Gemütlichkeit ist top«.
Auch hier schreitet Gerry Dueck wieder die Bankreihen ab, dazwischen eine Parade an Bierflaschen. Zögernd greift er zur Bibel. »Wenn es einen Gott gibt, muss er gar nicht in der Kirche sein«, predigt Gerry Dueck. »Nein, niemals«, brummt Heiko zurück. »Vielleicht ist er auf der Straße.« Wie Jesus, sagt Gerry Dueck, der wurde übrigens von den Leuten auch Weinsäufer genannt. Heiko schielt auf seine Sporttasche mit dem klimpernden Inhalt. Heiko, der Blues-Mann, der die Leute mitziehen kann, der so gerne in seinem Leben einmal was Großes auf die Beine gestellt hätte.
»Das ewige Leben will doch jeder«, sagt Gerry Dueck zu den Männern. »Nee, nee, das geht bei mir nicht mehr«, erwidert Heiko. »Ich will in die Kiste, und dann habe ich Ruhe.« Doch als Gerrys Bank-Predigt im allgemeinen Tumult unterzugehen droht, ruft Heiko mit all seiner Autorität: »Männer, seid mal Kumpels, Ruhe jetzt!«
14:30 Uhr Kaum einer auf diesem Nix-Platz würde in eine Kirche gehen. Uwe nicht, der Gott im Knast kennen lernte und jetzt vergebens sucht. Jörg nicht, der Gottes Schutz spürte, als ihm einst im Werk ein Stahlträger auf den Bauch schlug. Die weißhaarige Erna hat auf diesem Platz ihren Sohn an den Alkohol verloren. Und Andreas weiß seit kurzem, dass er Krebs hat. Auf einer Bank etwas abseits will er mit Gerry beten. Erst danach holt er sich einen Kaffee.
Seine Andacht hat Gerry natürlich nicht fertigbekommen. Ein Langhaariger steht plötzlich auf und umarmt ihn, dann einer mit Tunnellöchern im Ohr. Lachen, Grölen. Gerry ergibt sich und geht mit einem Lächeln an den lärmenden Bänken entlang. »Gott segnet uns alle«, sagt er und hebt die Hand wie ein Pfarrer in der Kirche, »ob ihr an ihn glaubt oder nicht.«
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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