Rituale helfen leben
Pierre Stutz über die Bedeutung von Ritualen für den Schulanfang und für das bewusste Gestalten des Alltags in einer schnelllebigen ZeitHerr Stutz, der Schulanfang steht vor der Tür – und damit ein großer Schritt für die kleinen ABC-Schützen. Oft mischt sich bei ihnen Vorfreude und Bangigkeit. Welche Rituale könnten den Kindern helfen, gut in die Schule zu starten?
Pierre Stutz: Man könnte dem Kind buchstäblich das Rückgrat stärken, indem man das Kind einlädt, einen kleinen Moment aufrecht dazustehen und tief ein- und auszuatmen – die Eltern legen dabei ihre Hand auf den Rücken des Kindes und sagen die Worte: »Du bist okay, gesegnet, so wie du jetzt bist.«
Oder die Eltern schenken dem Kind für den neuen Lebensabschnitt eine schöne, witzige Fotokarte, damit es in kleinen Momente der Bange, der Verunsicherung, der Verlorenheit immer wieder lesen kann, was die Eltern auf die Karte geschrieben haben: »Wir sind in Gedanken bei dir – Du kannst auf uns zählen – Du bist behütet.«
Sie haben viel über die Bedeutung auch kleiner Rituale für das Leben geschrieben. Haben Sie persönlich ein Lieblingsritual?
Um mich nicht in der Fülle von negativen Nachrichten zu verlieren, halte ich mehrmals pro Tag, wo immer ich bin, einen kleinen Moment inne, um im tiefen Ein- und Ausatmen mich zu verbinden mit all den Menschen, jung und alt, die jetzt weltweit soviel Gutes und Friedvolles tun.
Können Rituale auch einen ganz weltlichen Anstrich haben, wie das morgendliche Zeitungslesen oder der Nachmittagskaffee?
Ich unterscheide zwischen Gewohnheiten und Ritualen. Es gehört zu unserem Menschsein, dass wir – oft unbewusst – unsere Lieblingsgewohnheiten haben, die uns helfen, unserem Leben eine Struktur zu geben. Eine Gewohnheit kann zu einem achtsamen Ritual werden, wenn ich ihr eine tiefere Bedeutung gebe, wenn ich zum Beispiel am Ende der Dusche einen kleinen Moment die Wassertropfen auf dem Körper spüre und Gott danke für das Geschenk des Lebens.
Inwiefern können uns Rituale helfen, ein gutes Leben zu führen?
In einer Diktatur der Schnelligkeit, in der nie etwas genügt und wir immer schon weiter sein sollten und ein unmenschlicher Druck herrscht, der schon Kinder überfordert und zu Schlafstörungen und Ohnmacht führt, können wir mit Ritualen Grenzen setzen. Rituale sind für mich »Auferstehungsmomente«, in denen wir Widerstand wagen, um nicht gelebt zu werden, beziehungsweise uns regelmäßig erinnern, dass wir gesegnet sind vor allem Tun.
Welcher Sinn und welche Kraft steckt denn in den Ritualen?
Rituale leben von der Kraft der Wiederholung: Hole dir mehrmals täglich, was Du für Leib-Geist-Seele zu einem erfüllten Leben brauchst. Rituale möchten uns kleine Nischen der Achtsamkeit im Alltag schenken. Sie entfalten sich dank der Regelmäßigkeit, obwohl das Wesentliche nie machbar ist: Gott kommt all unseren Ritualen mit seiner Gnade zuvor.
Viele Zeitgenossen können heute nur noch wenig mit kirchlichen Ritualen anfangen – etwa der Beichte oder dem Abendmahl. Haben sich diese Rituale verbraucht oder bräuchten sie eine gewandelte Form?
Immer mehr Menschen sehnen sich nach Ritualen, das zeigt auch die große Fülle von Büchern zum Thema »Achtsamkeit«. Darin liegt die große Herausforderung der Kirchen, sich nicht mehr länger hinter einer weltfremden Kirchensprache zu verstecken. Die ganze biblische Tradition zeigt uns befreiend auf, dass wir ein Leben lang nach neuen Worten für das Unsagbare suchen dürfen.
In welchem Bereich haben sich in letzter Zeit Rituale als besonders sinn- und kraftvoll erwiesen?
In allen Kulturen finden sich »rites de passage«, Rituale in den Übergangszeiten des Lebens. Wenn nach einem schweren Unglück Menschen spontan Kerzen am Unglücksort anzünden, Blumen hinlegen, dann wird offensichtlich, dass gerade in den Grenzsituationen, in denen wir von einer Sprachlosigkeit gelähmt werden können, einfache Hoffnungs- und Vertrauensgesten eine große Lebenshilfe sein können.
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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