Dichter, Denker, Direktoren
Porträts deutscher Juden – Auszug aus dem aktuellen Buch von Ekkehard VollbachClara Immerwahr wuchs in einer liberalen und bildungsorientierten jüdischen Familie auf. Ihr Vater, Dr. Philipp Immerwahr, hatte Chemie studiert, träumte von einer wissenschaftlichen Karriere an der Universität, erkannte aber bald, dass er als Jude keine Chance hatte, diesen Traum zu verwirklichen. Stattdessen bewirtschaftete er das seiner Familie gehörende Gut Oswitz bei Polkendorf (heute Wojczyce). Der wohlhabende Landwirt heiratete seine sieben Jahre jüngere Cousine Anna Krohn. Die beiden hatten miteinander vier Kinder. Das jüngste Kind, Tochter Clara, wurde am 21. Juni 1870 geboren.
Philipp Immerwahr war daran interessiert, dass auch seine Töchter eine gute Schulbildung erhielten. Eine Ausnahme für die damalige Zeit. Die Direktorin der höheren Mädchenschule in Breslau, eine gebildete, weitgereiste und vor allem eine der Frauenbewegung nahestehende Frau, erkannte sehr bald die außergewöhnliche Begabung Claras. Von ihr erhielt Clara das 1805 erschienene Buch der Engländerin Jane Marcet mit dem Titel »Conservations on Chemistry«. Das Mädchen war begeistert und hoch motiviert, mehr über Chemie zu erfahren.
Aber was sollte Clara nach der Schule machen? Auf eine »gute Partie« warten – oder weiter lernen? Frauen, die über das an den höheren Töchterschulen Gebotene hinaus Wissen erlangen wollten, hatten zu der damaligen Zeit nur eine einzige Möglichkeit: Sie mussten ein Lehrerinnenseminar besuchen. Ab dem Jahr 1893, Clara war bereits als Gouvernante tätig, wurde es in Preußen Frauen, die eine höhere Mädchenschule besucht hatten, erlaubt, sogenannte gymnasiale Kurse zu besuchen. Clara nahm diese Möglichkeit sofort wahr. Und als 1896 Frauen gestattet wurde, Gasthörerinnen an der Universität zu sein, gelang es Clara durch ihr Wissen, ihre Hartnäckigkeit und mit einer großen Portion Zivilcourage, die Genehmigung dazu zu erhalten.
1897 konvertierte Clara – wahrscheinlich aus pragmatischen Gründen – zum Christentum. Im gleichen Jahr, sie war bereits 27 Jahre alt, bestand sie das Abitur. Nun war sie berechtigt, ein Vollstudium an der Universität aufzunehmen. Der Privatdozent Richard Abegg wurde ihr Lehrer. Er begegnete ihr vorurteilsfrei und ließ sie an seinen Forschungen teilhaben. Zwei Jahre spätere promovierte Clara Immerwahr mit dem Prädikat »magna cum laude«. Claras Promotion war eine Sensation. Immerhin hatte sie als erste Frau in Deutschland den Doktortitel im Fach Chemie erlangt. Eine Anstellung an der Universität erhielt sie trotz ihrer Leistung nicht. Die 30-Jährige konnte nur als unbezahlte Laborassistentin bei Professor Abegg wissenschaftlich tätig sein. Im Januar 1901 änderte sich ihr Leben total, als sie auf einer Tagung dem jungen Professor der Chemie Dr. Fritz Haber begegnete. Im August 1901 heirateten die beiden Chemiker. Sie hatten die Absicht, eine solche Forscherehe zu führen wie die Curies in Paris, was ihnen jedoch nicht gelingen sollte.
Das junge Paar bezog eine großzügige – und sehr teure – Wohnung. Dienstboten konnten sie sich darum nicht leisten, und so musste sich Dr. Clara Haber mehr und mehr um die Hausarbeit kümmern. Nach und nach verschwand Clara im Schatten ihres Ehemannes. 1902 wurde nach einer sehr schwierigen Schwangerschaft Sohn Hermann geboren. Clara hielt Referate, die für sie vom wissenschaftlichen Niveau her unbefriedigend waren, doch sie machten ihr wegen des Interesses der Zuhörer Freude.
In Karlsruhe gelang Fritz Haber zwischen 1904 und 1910 seine größte Erfindung: die Synthese von Ammoniak aus Wasserstoff und dem Stickstoff der Luft, für die er 1918 den Nobelpreis erhielt. Doch Claras Bilanz dieser Zeit sah anders aus. 1909 stellte sie in einem Brief an Professor Abegg fest: »Was Fritz in den letzten acht Jahren gewonnen hat, das habe ich verloren.« Während Professor Haber das Repräsentieren liebte, hatte seine Frau für derartige Dinge wenig übrig, zumal sie mehr und mehr die »Rolle der repräsentierenden, umsorgenden und allenfalls zuarbeitenden Professorengattin« übernehmen musste. Claras wissenschaftliche Interessen und Bemühungen wurden durch ihren Mann ignoriert, ja sogar missachtet.
So war die Ehe bereits total zerrüttet, als die Habers 1911 nach Berlin zogen. Die Familie wohnte nun in einer ansehnlichen Dienstvilla. Doch Clara begann gegen die ihr aufgezwungene Rolle der dienstbaren Gattin zu opponieren. Sie wandte sich mehr und mehr der Lebensreform-Bewegung zu, die Alternativen bot zur Ernährung, zur Schulmedizin oder zur gängigen Mode. So trug sie nun sogenannte Reformkleider, und der Buschfunk verbreitete die schockierende Nachricht unter den Damen der Gesellschaft, dass die Frau Geheimrat Dr. Haber sogar zusammen mit ihren Dienstmädchen Kaffee trank und selbst zum Einkaufen auf den Markt ging.
Im Jahr 1914 meldete sich der Herr Geheimrat Dr. Fritz Haber begeistert als Kriegsfreiwilliger. Clara hingegen sympathisierte mit der Friedensbewegung. Kurze Zeit später leitete Haber die »Zentralstelle für Fragen der Chemie« des Heeres. Als der Chef des Generalstabs des Heeres im Dezember 1914 die Chemiker aufforderte, nach einem Stoff zu suchen, der Menschen kampfunfähig macht, empfahl Fritz Haber, Chlorgas dafür zu verwenden. Clara war entsetzt. Sie warf ihrem Mann vor, dass seine Tätigkeit eine »Perversion der Wissenschaft« darstelle. Am 22. April 1915 um 18 Uhr wurden 160 Tonnen Chlorgas aus 6000 Flaschen abgelassen. Die Wirkung war verheerend. Der Professor aber wurde aufgrund seiner Leistungen in Sachen Gaskrieg auf Befehl des Kaisers zum Hauptmann befördert. Nach Berlin zurückgekehrt, gab Fritz Haber in seinem Haus aus diesem Anlass eine Abendgesellschaft. Als die Gäste gegangen waren, nahm er – wie immer – ein starkes Schlafmittel und ging zu Bett. Seine Frau dagegen schrieb Abschiedsbriefe. Dann zog sie die Dienstpistole ihres Mannes aus dem Holster, ging in den Garten, feuerte auf der Wiese einen Probeschuss ab und schoss sich dann ins Herz.
Es gibt kaum verwertbares Material zur Aufklärung der Hintergründe des Freitodes von Clara Immerwahr. Ein Sektionsbericht liegt nicht vor. Die Abschiedsbriefe sind nicht auffindbar, obwohl das Dienstpersonal sie noch gesehen haben will. Der wirklich letzte Grund des tragischen Todes der ersten promovierten jüdischen deutschen Chemikerin Dr. Clara Haber, geb. Immerwahr, wird wohl immer im Dunkel bleiben.
Jüdische Frauen und Männer des 19. Jahrhunderts haben unsere Kultur nachhaltig geprägt. Das Buch, aus dem hier in Auszügen der Beitrag zu Clara Haber abgedruckt ist, stellt zwanzig jüdische Persönlichkeiten vor – ihre Lebenswelt, religiöse Traditionen und gesellschaftliche Milieus. Es zeigt, dass jüdisches Leben aus unserer Kultur nicht wegzudenken ist – weder gestern noch heute.
Auszug aus dem Buch: Ekkehard Vollbach: Dichter, Denker, Direktoren. Porträts deutscher Juden. Edition Chrismon 2020, 19,90 Euro.
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