»Das hing vom lieben Gott ab«
Atomkrieg: Am 26. September 1983 verhinderte der sowjetische Oberstleutnant Stanislaw Petrow den atomaren Weltkrieg, weil er einen angezeigten amerikanischen Atomangriff als Fehlalarm einschätzte – was sich später als richtig erwies. Lange wurde dieser Held der Geschichte nicht ausreichend gewürdigt. Dabei ist er auch heute ein Vorbild.
Am 26. September 1983 hätte sich der Weltuntergang abspielen können. Man kann auch sagen, dass die Welt noch nie so nah an ihrer Vernichtung war wie an diesem Tag. Von einem Heiligen ist zu reden, von Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow, Jahrgang 1939. Er verhindert den Untergang der Welt an jenem Septembertag vor 40 Jahren. Tatort ist Serpuchow-15, ein Städtchen in der Nähe Moskaus. Dort ist in Bunkern das sowjetische Raketen-Frühwarnsystem untergebracht, die Kommandozentrale der sowjetischen Satellitenüberwachung. Petrow ist Oberstleutnant. Seine Aufgabe ist es, die Überwachung des sowjetischen Luftraums per Satellit und Computer zu leiten. Im Fall eines nuklearen Angriffes auf die UdSSR sah die Strategie einen mit allen Mitteln geführten sofortigen nuklearen Gegenschlag vor. Zu Petrows Pflichten gehört es, möglichst früh und absolut fehlerfrei einen jederzeit möglichen Raketenangriff der USA oder einer anderen Atommacht des Westens festzustellen. Die Nachricht davon soll dann unverzüglich weitergeleitet werden an die politische Führung mit Generalsekretär Juri Andropow an der Spitze. Dieser hätte dann den sowjetischen Gegenangriff zu befehligen. Das Ganze muss innerhalb von 15 bis 20 Minuten eingeleitet werden.
Von dieser Mobilmachung berichtet Petrow so: »Der Alarm ging gegen 0.15 Uhr los, vollkommen unerwartet. Wir hatten das oft geprobt, aber nun war es ernst. Die ganze ›Festbeleuchtung‹ ging an, die Sirenen heulten, und auf den Bildschirmen blinkte in großen, roten, kyrillischen Buchstaben: ›Raketenstart mit maximaler Wahrscheinlichkeit‹. Ein Schock. Ich war der Diensthabende und vom Dienstgrad her der Ranghöchste. Die anderen waren jüngere Offiziere, die dafür zuständig waren, die Raketen scharf zu machen. Sie waren völlig konsterniert. Alle warteten auf meine Entscheidung.« Petrow gelingt es, sich zu fassen und seinen Verstand einzuschalten: Ein US-Atomangriff auf die Sowjetunion würde nicht mit einer einzelnen Rakete beginnen, sondern mit einer Unmenge davon. Er telefoniert mit dem Generalstab. Auf Satellitenaufnahmen der US-Militärbasis konnte Petrow keine Rakete erkennen. Da die Basis jedoch zu dem Zeitpunkt genau auf der Tag-Nacht-Grenze lag, hatten die Bilder nur eingeschränkte Aussagekraft. Petrow meldete der Militärführung einen Fehlalarm. Noch während des Gesprächs »meldete der Computer einen zweiten Raketenstart und dann einen dritten, vierten und fünften«. In einem solchen Fall bleiben nur wenige Minuten, um die fliegenden Waffen zweifelsfrei zu identifizieren. Wenn sich Andropow zum Gegenschlag entschließt, sind sieben Minuten später ein ganzes Rudel sowjetischer nuklearer Interkontinental-Raketen des Typs SS-18 unterwegs in Richtung Washington und zu diversen US-Militärbasen in Europa. Stanislaw Petrow: »Für uns war klar, wenn die Amerikaner zuerst angreifen, würden sie länger zu leben haben als wir, aber eben nur zwanzig bis dreißig Minuten.« Dagegen verweigert Petrow den Kriegsdienst. Alle Raketen-Instruktionen werden auf seinen Befehl gestoppt. Er geht weiterhin von einem Fehlalarm aus, da ein tatsächlicher Atomschlag seiner Ansicht nach mit deutlich mehr Raketen hätte stattfinden müssen. Dabei standen ihm keine anderen Daten zur Verfügung, um seine Einstufung im maßgeblichen Zeitraum überprüfen zu können. Das landgestützte sowjetische Radar konnte keine zusätzlichen Daten liefern, da dessen Reichweite dafür zu gering war. Erst nach 17 Minuten wurde aus den Daten der Bodenradare klar, dass tatsächlich keine Raketen heranflogen. Der Druck, unter dem Petrow während dieser Entscheidungsphase stand, war immens: Einerseits würde eine Weiterleitung von fehlerhaften Satellitendaten zu einem sowjetischen atomaren Erstschlag führen. Andererseits würden im Falle eines tatsächlichen US-amerikanischen Angriffs umgehend dutzende nukleare Sprengköpfe auf sowjetisches Territorium niedergehen und seine Einstufung der Satellitenwarnung als Falschmeldung eine gravierende Einschränkung der sowjetischen Handlungsoptionen bedeuten. Petrow hatte Kopf und Kragen riskiert und die Vorschriften zur Information des Generalsekretärs ignoriert. Er ging von einem Irrtum aus, der nach endlosen 17 Minuten auch bestätigt wurde: ein Fehlalarm!
Die Untersuchungen ergeben: Ein sowjetischer Weltraumsatellit hält Reflexionen von Sonnenstrahlen in der Gegend einer US-Raketenbasis in Montana für den Schweif einer startenden Rakete. Ein Computerfehler kommt hinzu. Auch wenn den Befehl zum Gegenschlag letztlich noch das sowjetische Oberkommando und die Staatsführung hätten geben müssen, hatte Petrow durch sein Verhalten die hierarchische Kettenreaktion bis zu einem möglichen Nuklearkrieg rechtzeitig unterbrochen. Später sagte Petrow über seine Entscheidung: »Ich wollte nicht schuld sein am Dritten Weltkrieg.«
Stanislaw Petrows Tat – besser: sein Unterlassen – bleibt zu Zeiten des sowjetischen Sozialismus ruhmlos. Für ihn und die Zeugen wird ein strenges Schweigegebot erlassen. Aus Gründen der militärischen Geheimhaltung und wegen politischer Spannungen wurde Petrows Vorgehen erst in den 1990er Jahren publik. Petrow wird weder gewürdigt noch bestraft. Aber seit seinem eigenmächtigen Handeln gilt er nicht mehr als ein zuverlässiger Offizier. Seine Karriere endet, indem er auf einen bedeutungslosen Posten versetzt wird. Er wird sehr krank, arm und verbittert. Am 19. Mai 2017 ist er in Frjasino bei Moskau gestorben. Heiliggesprochen wird er natürlich nicht. Wer kennt schon seinen Namen in Russland, in Europa oder in den USA?
War sein weltbewahrendes Handeln Zufall? Schicksal? Geschick? Fügung? Vorsehung? Stanislaw Petrow tritt an jenem 26. September 1983 seinen Dienst in Vertretung eines erkrankten Kollegen an. Hätte dieser kein Fieber gehabt, hätte anstelle Petrows ein Anderer Wache schieben müssen. Eine Arbeitsgruppe des sowjetischen Militärs untersucht die Ursachen jenes Fehlalarms. Petrow muss immer wieder auf dieselben Fragen antworten. Der Leiter der Arbeitsgruppe reizt ihn so sehr, dass er nur noch ein »Das hing vom lieben Gott ab« hervorbringen kann. Petrow erinnert sich: »Nun wurde der wütend wie ein Stier, begann mit den Füßen zu trampeln: ›Was soll das denn heißen? Das hing vom lieben Gott ab?‹ Wir waren ja ein atheistisches Land. Aber ich entgegnete ihm: ›Andere Informationen habe ich nicht.‹»
Am 13. Februar 2013 erhielt Petrow den Dresdner Friedenspreis, mit dem besondere Leistungen gegen Konflikte, Gewalt und Eskalationen gewürdigt werden. Zur Begründung der Preisvergabe sagte Nobelpreisträger Günter Blobel, Präsident der »Friends of Dresden«: »Der Dresden-Preis wird verliehen für Konflikt- und Gewaltprävention. Das Wort Prävention kommt vom lateinischen praevenire, zuvorkommen. Stanislaw Petrow ist in der Nacht vom 25. zum 26. September 1983 einem Dritten Weltkrieg zuvorgekommen und Politikern, die vielleicht oder sogar wahrscheinlich anders entschieden hätten. Ein Ingenieur im Dienst der Sowjetarmee, der vor einer Verantwortung stand, die größer nicht sein konnte, der Verantwortung für das Überleben der Menschheit. Er ist ihr gerecht geworden, weil er nicht als Techniker, nicht als Offizier entschied, sondern als Mensch. Er hatte die Chance, diese Verantwortung abzugeben an seine Vorgesetzten, an Politiker. Und hat das nicht getan. Üblicherweise sind die großen Friedensgesten mit großen Namen verbunden. Hier ist das nicht der Fall. Aber Stanislaw Petrows Tat wird in die Geschichte eingehen als eine der bedeutenden Friedenstaten der letzten Jahrzehnte. Und diese Geschichte sagt auch etwas über den Irrsinn der atomaren Rüstung, ein Irrsinn, der noch lange nicht zu Ende ist. Und der beendet werden muss. Denn jederzeit kann es wieder geschehen, was damals nahe Moskau passierte. Und wir wissen nicht, wer dann die Verantwortung übernimmt.«
Anlässlich des 35. Jahrestages des mutigen Handelns Petrows wurde ihm am 26. September 2018 der Future of Life Award in New York verliehen. Bei diesem Anlass sagte der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon: »Es ist schwer, sich etwas Verheerenderes für die Menschheit vorzustellen als einen totalen Atomkrieg zwischen Russland und den Vereinigten Staaten. Und doch hätte es am 26. September 1983 zufällig dazu kommen können, wenn Stanislaw Jew- grafowitsch Petrow nicht so weise entschieden hätte. Dafür gebührt ihm die tiefe Dankbarkeit der Menschheit. Lassen Sie uns beschließen, gemeinsam an der Verwirklichung einer Welt ohne Angst vor Atomwaffen zu arbeiten und uns dabei an das mutige Urteil von Stanislaw Petrow zu erinnern.«
Links: Stanislaw Petrow im Jahr 1982. © Stanislav Petrov/CC0.1.0. Rechts: Stanislaw Petrow im Jahr 2016. © Queery-54/CC BY-SA 4.0.
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