Verletzt, versetzt, versagt
Die ForuM-Studie zeigt auch mehrere Fälle von Missbrauch in Sachsen. Das Beispiel eines Pfarrers in Marienberg zeigt Kirchenleitungsversagen und doppelten Machtmissbrauch.
Auf der Internetseite des Kirchenbezirks Marienberg steht seit September folgende Erklärung: »Es gibt Hinweise, dass es im Zeitraum 1975–2001 in der Kirchgemeinde Marienberg sexuelle Übergriffe durch kirchliche Mitarbeiter gegeben hat. Diese sollen sich im Rahmen der Jungen Gemeinde bzw. im Rahmen kirchenmusikalischer Veranstaltungen ereignet haben.« Anschließend ruft die Landeskirche Sachsens dazu auf, dass Betroffene oder Hinweisgeber die landeskirchliche Meldestelle kontaktieren sollen. Was hinter diesem Aufruf steckt, zeigt nun die vergangene Woche veröffentlichte »ForuM-Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche und Diakonie«: Jahrelange sexualisierte Gewalt eines Pfarrers gegenüber Jugendlichen – mit dem Wissen von Staatssicherheit und kirchlichen Vorgesetzten.
Um es gleich am Anfang zu sagen: Die wissenschaftliche Studie auf ihren knapp 870 Seiten ist vollständig anonymisiert, sowohl was Personen betrifft als auch Orte. Trotzdem finden sich Möglichkeiten der räumlichen und teilweise personellen Zuordnung. So lässt sich der bereits öffentlich bekannte Fall des Jugendwarts Kurt Ströer in der Studie wiederfinden, wo er ausführlich von mehreren Betroffenen reflektiert wird. Durch Recherchen des SONNTAG kann zudem der Marienberger Missbrauchsfall eines Pfarrers zugeordnet werden.
Die sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen beginnt dabei nicht erst in Marienberg, sondern bereits in Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz: Die Polizei ermittelt 1969 und 1970 in mehreren Fällen gegen den 1940 geborenen Pfarrer – so wird auch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) auf ihn aufmerksam. Die Stasi benutzt die Straftaten, um den Pfarrer damit zu erpressen und ihn als Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) zu gewinnen – was auf »Basis der Wiedergutmachung« gelingt, wie es in der Studie heißt. Diese Ausnutzung sexualisierter Gewalt zeige »einen doppelten bzw. sich überlagernden Machtmissbrauch«, schreiben die Wissenschaftler. Einerseits durch kirchliche Mitarbeiter wie hier den Pfarrer gegenüber Minderjährigen, andererseits durch das MfS für seine Zwecke.
Zugleich heißt es in der Studie: »Nicht nur der Staat versuchte, den Pfarrer zu schützen. Auch das zuständige Landeskirchenamt der EVLKS intervenierte und versetzte den Pfarrer in eine andere Gemeinde.« Denn 1975 war es wieder zu einer Anzeige gekommen. Die Mutter eines Betroffenen hatte diesmal auch den zuständigen Superintendenten und den Kirchenvorstand der Gemeinde informiert, »was die Versetzung des Pfarrers zur Folge hatte«, schreiben die Wissenschaftler.
Bei der Versetzung erhielt die aufnehmende Dienststelle in Marienberg »auf offiziellem Weg keine Angaben zu den Gründen«, geht laut Studie aus landeskirchlichen Akten hervor. Die sexualisierte Gewalt durch den Pfarrer hält an. Das vermerken nicht nur Stasi-Akten. Auch der Bezirksjugendwart habe mit Betroffenen gesprochen und hartnäckig Kritik am Pfarrer geübt, bis ins Landeskirchenamt. Dieses leitet 1986 schließlich ein Amtszuchtverfahren ein. Ergebnis: Er soll sich psychologisch behandeln lassen. Es ändert nichts. Pfarrer und Kirche machen so weiter, bis der Mann 1991 an den Folgen eines Verkehrsunfalls stirbt.
»Warum deckten alle den Pfarrer, obwohl dieser erwiesenermaßen sexualisierte Gewalt gegenüber männlichen Jugendlichen ausgeübt hatte?«, fragt die ForuM-Studie. Antwort: Viele Faktoren spielten eine Rolle, auch der Pfarrermangel. »Ein vermeintlicher Mangel an Beweisen diente ferner jahrelang als Begründung, kein Verfahren gegen den Pfarrer einzuleiten. Dabei wurde dieser Mangel an Beweisen aktiv angestrebt, indem keine weiterführenden Untersuchungen und Befragungen eingeleitet wurden. Die Sache wurde damit bewusst unter den Teppich gekehrt«, beklagen die Wissenschaftler. »Nicht die Betroffenen standen hier im Fokus der Fürsorge, sondern der beschuldigte Pfarrer.« Auf Anfrage im Landeskirchenamt hieß es vor der Veröffentlichung der Studie, zu diesem Fall sei »uns bisher nur sehr wenig bekannt«. Dies dürfte sich nun geändert haben.
Der Aufruf auf der Internetseite des Kirchenbezirks Marienberg ist erst der Anfang einer Entwicklung. Seit wenigen Tagen steht auch auf der Internetseite der Kirchenmusikhochschule Dresden: »Es gibt Hinweise, dass es im Zeitraum 1977–1988 in der damaligen Kirchenmusikschule Dresden sexuelle Übergriffe durch den damaligen Leiter gegeben hat.«
Die Pressesprecherin der Landeskirche, Tabea Köbsch, ruft Betroffene auf, sich zu melden: »Sobald wir Hinweise erhalten, dass es in einem Fall möglicherweise weitere Betroffene gibt, werden wir in Abstimmung mit den örtlichen Kirchgemeinden, kirchlichen Einrichtungen und Kirchenbezirken dazu auch öffentlich informieren.« Zudem sei bereits damit begonnen worden, eine neue unabhängige Aufarbeitungskommission für Sachsens Landeskirche und Diakonie vorzubereiten. Spätestens im März 2025 soll sie arbeitsfähig sein, so wie alle neun regionalen Aufarbeitungskommissionen innerhalb der EKD.
Hinweis an Betroffene
Betroffene von sexualisierter Gewalt können sich unter anderem melden bei:
Unabhängige Ansprech- und Meldestelle der Landeskirche Sachsens: Telefon: (0351) 46 92–106, E-Mail: kathrin.wallrabe@evlks.de
Unabhängige Aufarbeitungskommission Pobershau: E-Mail: aufarbeitung-pobershau@posteo.de
Aufrufe an Betroffene auf den Internetseiten des Kirchenbezirks Marienberg und der Kirchenmusikhochschule Dresden zu Fällen sexualisierter Gewalt. Montage: so
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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