Gott in der Welt halten
Kleinste Kirche Sachsens: In Rugiswalde gelang es einer Handvoll Christen 1963 ein Kirchlein zu errichten – mit Mut, Zuversicht und Klugheit. Bis heute wird hier das familiäre Miteinander geschätzt.Nebelschleier hängen in den Fichtenwäldern über dem Tal des Frohnbachs. In Rugiswalde ist es immer ein paar Grad kälter, das Klima rauer. Das 260-Einwohner-Dorf gilt als schneesicher. Es beginnt an der Staatsstraße 154, auf halber Strecke zwischen Neustadt/Sachsen und Sebnitz, und endet an der tschechischen Grenze. Den Skihang am 532 Meter hohen Gerstenberg gibt es seit DDR-Zeiten, heute mit Lift und neuem Skiheim. Schneit es, ist die Wiese am Dorfrand zugeparkt.
Die zweite Attraktion kennen wenige. Am ehesten ein paar Alteingesessene. Lächeln sie, weiß man, sie gehörten damals dazu. Wie der kräftige Mann, der Blaufichtenzweige zurechtschneidet. Die kleine Kirche im Ort? »Na klar. Da bin ich als kleiner Junge hingegangen«, erzählt er. »Wir paar Christen passten nicht in die Zeit.« Seinen Traumberuf, Elektriker, habe er deswegen vergessen können. »Bin ich eben Maurer geworden. Die hatten ihre Partei, wir unsere Kirche.«
Leicht zu finden ist die Kirche nicht. Man muss am Haus von Hans-Jürgen Kind und seiner Frau Ilona vorbei, ein Stück die Wiese hinauf. Am Rand ihres Grundstücks steht sie zwischen Fichten, Kiefern und Rhododendron: Ein Kirchlein, verkleidet mit hellgrauen Kunststoffschindeln. Auf den ersten Blick eine Gartenlaube, wäre nicht das zarte Metallkreuz auf dem Giebel.
Für Hans-Jürgen Kind, 1954 in Rugiswalde geboren, gelernter KFZ-Schlosser, gehört sie zu seiner Kindheit. Neun war er, als sie gebaut wurde. Zuvor versammelten er und die anderen sich zu zehnt zur wöchentlichen Christenlehre bei Fräulein Pauli aus Neustadt im Vereinszimmer der Gaststätte »Michel« gegenüber dem Skihang. Deren Sprösslinge führten ihren kleinen Kirchenkampf. Regelmäßig klopften sie draußen gegen die Fenster, johlten, schnitten Gesichter. Unmöglich, sich zu konzentrieren. »Bei vielen aber war die Kirche nicht beliebt«, erinnert sich Hans-Jürgen Kind. Die Gruppe wich in die Korbmacherwerkstatt von Großvater und Vater aus. »Doch die stand voll mit Weidenruten und Werkzeug. Das mussten wir jedesmal erst beiseite räumen.« Irgendwann hatte Großmutter Lenny Fröbisch die Nase voll. »Und wenn wir uns was Neues bauen?«, fragte sie. »Auf eigenem Grund und Boden könnte uns niemand mehr stören.«
Ein kirchliches Gebäude, Anfang der Sechziger, wo Staat und Behörden am planmäßigen Absterben der Religion arbeiteten? Unmöglich, fanden die anderen. Müsse man ihnen denn auf die Nase binden, dass es was Kirchliches ist?, warf die Großmutter ein.
Großvater Walter Fröbisch, 1888 geboren, Gutsverwalter in Lettland, im Ersten Weltkrieg aus der Kriegsgefangenschaft in Sibirien nach Sachsen geflüchtet, fuhr zum Rat des Kreises und beantragte die Errichtung eines Lagerschuppens für sein Korbmachergewerbe. Das genehmigten sie ihm. Wie aber sollten sie im Winter dort lernen? Der Großvater reichte einen Antrag auf Schornstein und Feuerstelle nach. Da wurden die Behördenmitarbeiter stutzig. Zähneknirschend erteilten sie die Erlaubnis. Inzwischen war das Gerücht vom Neubau für die Christenlehre zu ihnen durchgedrungen.
Doch da waren die Arbeiten bereits im Gange. Mit Helfern richteten Fröbischs Wände aus Gipskarton auf, verkleideten sie innen mit Hartfaserplatten, zogen einen Betonfußboden, später Dielen ein, oben kam Dachpappe drauf. Bei Abraham Dürninger in Herrnhut bestellten sie 25 Buchenstühle à 16,50 Mark, in Wiehe im Unstrut- tal ein Harmonium für 413 Mark, wie Walter Fröbisch in seiner Chronik festhielt. Den kleinen Altartisch, das große Kreuz und das Lesepult fertigte Tischler Meinschel. Der war Katholik, ging aber nie zum Gottesdienst. Die Handvoll sudetendeutscher Katholiken, nach dem Zweiten Weltkrieg von der böhmischen Seite hierher vertrieben, fragten, ob sie, Ältere zumeist, ebenfalls in dem Kirchlein Gottesdienst feiern könnten. Die Lutheraner hatten nichts dagegen. So nahm an der Weihe am 6. Oktober 1963 neben evangelischen Pfarrern auch ein katholischer Geistlicher teil. Am 29. Dezember 1963 berichtete der SONNTAG: »In einem festlichen Gottesdienst wurde eine neue Kirchenbaracke eingeweiht, die die kleinste Kirche Sachsens ist.« Maximal 30 Personen passten hinein. Sämtliche Mittel dafür, weit über 3000 Mark, hatten Walter Fröbisch und seine Frau aus eigener Tasche der Kirchgemeinde gestiftet. Und dann war Großmutter Lenny sechs Monate vorher, zu Ostern, gestorben.
Fortan feierten sie dort am frühen Sonntagmorgen evangelischen Gottesdienst, anschließend katholische Messe. Aus Dankbarkeit ließ eine Katholikin in Lauchhammer eine Bronzeglocke gießen. Großvater Walter und sein Sohn entwarfen ein Holzgerüst und sprachen mit der Zeichnung beim Rat des Kreises vor. So viel Dreistigkeit ging dem Kreisarchitekten denn doch zu weit. Er lehnte ab. Begründung: eine frei hängende Glocke wirke »anlockend«. Das Gebäude jedoch ein Stück zu vergrößern, wurde ihnen zugestanden. So setzten sie einen schmalen Anbau dran und hängten die Glocke oben in diesen Vorraum. »Ja, die Rugiswalder haben schon immer das Ihre gemacht«, sagt Sören Schellenberger. Der 56-Jährige ist seit 2000 Pfarrer in Neustadt. Die Kirche dort war die einzige für die fünf eingepfarrten Dörfer, bis 1963. Warum er in Rugiswalde auch 2023 vier- bis fünfmal im Jahr Gottesdienst feiern will, begründet er mit drei Superlativen: »Es ist erstens die kleinste Kirche Sachsens. Gemessen an freibleibenden Plätzen zweitens die vollste. Und drittens Dank dem kleinen Dauerbrand- ofen im Winter die wärmste.« Als Besonderheit komme hinzu: So dicht wie hier sitze man nirgends sonst beieinander. »Das ist schon bissel familiär«, meint auch Hans-Jürgen Kind.
Womöglich seien die Rugiswalder Vorreiter einer künftigen Entwicklung, überlegt Pfarrer Schellenberger. »Mit ihrer Kapelle zeigen sie: Es muss Leute vor Ort geben, die was wollen und das dann auf die Beine stellen. Gegen alle Widerstände, mit Glaubensstärke und Witz.«
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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