Eine Grenze, die verbindet
Der Erzgebirgskamm trennt seit Jahrhunderten Böhmen und Sachsen – dabei wuchs dort genau so lange auch viel Gemeinsames. Nur war das lange ein Tabu. Der Tscheche Jan Kvapil und der Deutsche Wolfgang Mende wollen das ändern. Eine Grenzwanderung.Im östlichen Erzgebirge erzählt man sich die Geschichte vom wandernden Haus. Sie ist recht eigentlich eine Geschichte über die böhmisch-sächsische Grenze. Oder Nicht-Grenze. Sie geht so: Als vor knapp 300 Jahren auch die letzten Zipfel Böhmens hoch oben im Erzgebirge wieder katholisch werden sollten, lud ein findiger Zinnwalder sein Haus auf Baumstämme und zog es ein paar Meter über die Grenze ins evangelische Sachsen. In Wahrheit hatte der protestantische Böhme die Grenzsteine einfach von einer Seite seines Hauses auf die andere Seite versetzt. Was dreierlei beweist: Die Grenze zwischen Böhmen und Sachsen war immer fließend, auch wenn sie seit dem Vertrag von Eger 1459 eigentlich so fest steht wie kaum eine andere in Europa. Ihre Schärfe oder Durchlässigkeit hatte oft genug mit Glauben oder Verblendung zu tun. Und sie hat trotz manch dunkler Seiten auch etwas vom böhmischen Humor.
Jan Kvapil (47) und Wolfgang Mende (70) jedenfalls freuen sich noch immer über diese Geschichte. Ein Tscheche und ein Sachse, der Enkel eines Deutschen-Hassers und der Sohn einer Vertriebenen. Sie lachen, hoch oben am Zinnwalder Grenzstein, zusammen. Kvapil, Germanist mit Doktortitel und runder Hornbrille, radelt kurz hinter dem Grenzübergang auf tschechischer Seite an einer Parade von Gartenzwergen entlang, die in Verschlägen den Deutschen zum Verkauf angeboten werden. »Das ist wie eine deutsche Hinterkammer hier«, sagt er schmunzelnd, »ein Blick in das, wonach sich die Deutschen sehnen.«
Ein paar hundert Meter weiter den Grenzweg nach Osten entlang ist der zum Scherzen aufgelegte Tscheche fassungslos. Er zeigt auf ein Denkmal aus hellem Sandstein, erst am vergangenen Wochenende wurde es eingeweiht: das Standbild eines tschechischen Grenzsoldaten mit Schäferhund, das Gewehr aufgestellt, sein Blick geht nach Sachsen. Ehemalige Grenzer und Kommunisten hätten es gebaut, sagt Kvapil empört. Er selbst trägt ein T-Shirt mit der deutsch-tschechischen Aufschrift »My jsme Nachbarn! Wir sind sousedé!« seiner Initiative »Samstage für Nachbarschaft«. Als der Corona-Lockdown im letzten Jahr den Vorhang zwischen beiden Ländern wieder dicht machte, lud Kvapil zum gemeinsamen Picknicken auf einer Grenzwiese ein.
Jan Kvapil öffnet die Tür zum Friedhof von Cinovec. Sie quietscht, hier kommen nicht oft Leute vorbei. Die Grabsteine tragen deutsche Familiennamen: Rudolf, Stöhs, Grohmann, Burock. Über den Gräbern wächst Gras. Wolfgang Mende neben ihm zeigt auf seine Füße. »Ein Bein von mir hat böhmische und eines sächsische Wurzeln.« Seine Mutter stammt von hier: Cinovec hieß damals Hinterzinnwald, 1945 ist sie vor den Vertreibungen ins sächsische Zinnwald-Georgenfeld geflohen. Jan Kvapil wiederum hat einen Großvater, der als sozialistischer Utopist und Erfinder nach den Vertreibungen ins Grenzland kam und dort eine bessere Gesellschaft bauen wollte. »Er hat zwei Weltkriege erlebt«, erinnert sich Jan Kvapil. »Für ihn war es eine historische Wirklichkeit, dass die Deutschen einfach böse sind.« Als sein Enkel Germanist wurde, zeigte sich der tschechische Großvater verärgert und auch enttäuscht. Es ging ihm wie nicht wenigen in Tschechien. Erst die Generation der Enkel und Urenkel begann nach der Jahrtausendwende, einen neuen Blick auf das Gemeinsame und Trennende der deutsch-böhmischen Geschichte zu werfen.
Auf einer abschüssigen Abfahrt der sich schlängelnden Landstraße auf dem tschechischen Erzgebirgskamm bleibt Jan Kvapil plötzlich stehen. Aus einem roten Beutel in seinem Fahrradkorb holt er alte Fotos und zeigt über die Wiesenhänge. »Überall, wo jetzt Brennnesseln wachsen, war ein Hof.« Ein Hof von Deutsch sprechenden Böhmen, auf den alten Bildern sind sie gut zu sehen. Dort stand die Gastwirtschaft »Zur Sächsischen Schweiz«, weiß Wolfgang Mende. Und dort die Schule, und dort war der Arzt. Und da drüben, im Wolfsgrund, haben Bergleute im 14. Jahrhundert die Gebirgssiedlung weiland gegründet. Mende weiß all das, weil er der Ortschronist von Zinnwald ist. Seine Mutter hat nie über ihre verlorene Heimat gesprochen. Es war ein Tabu, so wie die ganze deutsch-tschechische Geschichte lange ein Tabu war.
Sie liegt im tschechischen Vorderzinnwald unter einem mit Brennnesseln, Himbeersträuchern und Gebirgskräutern bewachsenen Hügel begraben. Jan Kvapil und Wolfgang Mende sehen durch das Grün der Zeit hindurch. Was sie erblicken, ist eine Kapelle und in ihr die böhmisch-sächsische Grenzgeschichte wie in einer Nussschale: In den 1950er Jahren von tschechischen Grenztruppen geschleift und in ihr ein spätgotischer Marienaltar, der einst wohl in Pirna entstanden war und lange im sächsischen Fürstenau gleich hinter den Hügeln seine Heimat hatte. Zur evangelischen Kirche dort hinter der Grenze gingen jeden Sonntag die Vorderzinnwalder, die eigentlich im katholischen Böhmen lebten. Und als sie im 18. Jahrhundert doch Katholiken werden mussten und der aufgeklärte Kaiser Josef II. große Wallfahrten verbot, schufen sie sich ihre eigene Wallfahrt zum Marienaltar drüben im sächsischen Fürstenau – mit Tanz und allerlei Trubel. Die Fürstenauer wiederum kamen gern herüber auf ein Bier in die böhmischen Wirtschaften. Das fröhliche Hin und Her zwischen Böhmen und Sachsen, gern auch auf Schmugglerwegen, löste sich im Gift des Nationalismus langsam auf.
Jan Kvapil und Wolfgang Mende bleiben vor einer Weide voller Kühe auf dem Gebirgskamm stehen. Ein blanker schwarzer Stein erinnert an 59 Opfer eines Todesmarsches aus einem KZ 1945. Es gibt einige solcher Steine auf den Höhen des Erzgebirges. Ihr Blut tränkte die sächsisch-böhmische Grenze als erstes. Danach kamen die Vertreibungen. Jan Kvapil kann ihre Geschichte auf zwei Luftbildern von Vorderzinnwald ablesen. Auf dem Foto von 1946 sind noch Häuser, Wege, Felder und Kuhherden zu sehen – auf dem von 1963 ist nur noch Grau: Gras wächst über allem, auch über dem sich ins sächsische Fürstenau schlängelnden Fußweg. Breit dagegen fräst sich der Grenzstreifen in die Landschaft. Kvapil und Mende blicken auf das, was von der Vorderzinnwalder Kapelle übrig geblieben ist. »Die Grenze ist die Einladung zu ihrer Abschaffung«, sagt der Tscheche Kvapil, und der Deutsche Mende nickt. Sie haben eine Idee: sie möchten die Grundmauern der Kapelle unter dem Brennnesselhügel freilegen und einen Ort für Begegnungen schaffen. Für Deutsche und Tschechen. Jan Kvapil bietet Exkursionen ins Grenzland an, Wolfgang Mende spricht oft mit tschechischen Jugendlichen. »Unsere Generation kann nichts mehr für die Geschichte«, sagt er, »aber wir sollten sie bewahren und dafür sorgen, dass sich ihre Dummheiten nicht wiederholen.«
Jan Kvapil hat Kuchen mit an die Kapelle gebracht. Die Pflaumen hat er mit seinen Kindern auf der sächsischen Seite des Erzgebirgskamms gepflückt, der Mohn ist aus Böhmen. Zusammen erst entfalten sie ihren Zauber. Ein rollendes Haus indes gibt es nicht mehr an der Grenze. Es wäre auch unnötig. Die Flagge der Europäischen Union flattert auf beiden Seiten.
(zuerst erschienen im SINN-Magazin)
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