»Ich war als schräger Typ bekannt«
Evangelischer Medienpreis: Über 40 Jahre hat Steffen Giersch kirchliches Leben in Sachsen fotografiert. Nun hat der Fotograf diesen Bilderschatz dem Landeskirchenarchiv übergeben. Doch sein fotografisches Lebenswerk umfasst mehr – eine Kunst, die jetzt ausgezeichnet wird.Die Zukunft leuchtet nicht mehr. Sie hat ausgedient und ist Vergangenheit. Die Zukunft ist eine Ruine, ohne Dach und Fenster. Steffen Giersch hatte das Abrisshaus samt alter Leuchtreklame »Zukunft« in der Wendezeit in Dresden fotografiert. Schwarz-weiß, wie es damals verbreitet war und er vor allem davon Abzüge selbst herstellen konnte.
Einen dieser Abzüge hält der 71-jährige Fotograf heute in den Händen, zeigt ihn schmunzelnd in die Kamera. Es sind diese Gegensätze, diese witzigen Widersprüche, mit denen Steffen Giersch besonders den DDR-Alltag unverblümt zeigte – und in alle Welt verschickte. Der LKW-Fahrer für die Deutsche Reichsbahn – sein Traumberuf war Lokführer – fotografierte zusammen mit seiner Frau Martina als Hobby für »Mail Art«, was Postkunst bedeutet. In der engen DDR sprengte diese Kunst dank zu Hunderten selbst hergestellter Kunstpostkarten die Grenzen. Ein internationales Netzwerk von Mailartisten schickte sich gegenseitig Kunstpost, was besonders für die Künstler hinter dem Eisernen Vorhang eine Nische und echte Freude war. »Wir bekamen Wäschekörbe voller Post aus aller Welt«, freut sich Steffen Giersch noch heute. Und innerhalb der DDR hätten sich seine Postkarten auf Märkten und Festen bestens verkauft, erzählt er. Unabhängige Kunst im sonst so kontrollierten SED-Staat.
Doch auch Steffen Giersch wurde durch die Staatssicherheit observiert und schikaniert, verlor seine Verkaufslizenz und musste neue Freiräume suchen. Sein freundliches Lächeln und seinen Optimismus verlor er dabei nicht. Vielleicht führte es ihn sogar dorthin, wo er sich ab den 1980er Jahren immer wohler fühlte: in den Raum der Kirche. »Man konnte dort frei reden über die Mangelwirtschaft und die Unterdrückung«, erinnert sich der Christ, der den Kontakt zur Kirche in der Jugend verloren hatte. »Ich sollte meine Fotos beim Friedensseminar Meißen zeigen«, erzählt Steffen Giersch, wie er zum Friedensaktivisten Rudolf Albrecht kam. Der Pfarrer habe ihn dann gebeten, die Friedensseminare zu dokumentieren. Der Einstieg in die kirchlichen Fotoaufträge – und der allmähliche Übergang von der künstlerischen zur journalistischen Profession.
Was er dafür wissen muss, lernte er bei der Arbeit. Und die machte er gut und unaufdringlich. Das wussten immer mehr Menschen zu schätzen und versorgten ihn mit Aufträgen. Auch Kirchen- und andere Zeitungen in der DDR begannen, seine Bilder zu nutzen.
Parallel konnte er die Kunstpostkarten von sich und seiner Frau – etwa zum Thema »Mobil ohne Auto« – in Kirchen ausstellen. »Diese Freiräume, die uns Kirche damals gab!«, staunt Steffen Giersch heute noch. Er konnte sie mit seinen Fotos zeigen und zugleich für seine Kunstpostkarten nutzen. »Ich war damals schon bekannt als schräger Typ«, sagt er und greift ein Foto, das ihn von hinten zeigt: mit Hemd und Weste, Zylinder auf dem Kopf und Geigenkasten in der Hand einen Wiesenweg entlang schlendernd – der Unterkörper splitternackt.
Als sich der SED-Staat 1989 auf der Straße noch gegen den Zusammenbruch wehrte, war Steffen Giersch auch dabei. »Diese ganz heiße Phase habe ich aber nicht fotografiert«, sagt er über die Demos, die am Dresdner Hauptbahnhof eskalierten. Er erinnert sich an teils brutale Gewalt der Polizei. »Da bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, den Fotoapparat mitzunehmen.« Das geschah erst einige Wochen später, als es sicherer war und das System kapitulierte.
Die ab Ende 1989 offenen Grenzen nutzte Steffen Giersch für Reisen. Vor allem dokumentierte er Hilfstransporte, private oder kirchliche, etwa in den Irak, die Ukraine, Rumänien und Russland. Es sind die einfachen Menschen, die am Rande stehen, die ihn ehrlich interessieren und die sich ihm deshalb auch öffnen. »Fotografieren ist immer auch Vertrauenssache«, weiß er. Während er bei den Hilfstransporten Not und erschreckende Verhältnisse erlebt, porträtierte er in den USA teils sehr reiche Überlebende des Holocaust aus Dresden – und musste seine Haltung ebenso überdenken wie beim Wiederaufbau der Frauenkirche, den er akribisch festhielt.
Neben dem Landtag fotografierte Steffen Giersch seit 1990 besonders für den SONNTAG. »Ich war auf jedem Kirchentag dabei«, sagt er begeistert. Doch vor allem war er viel in der Landeskirche und ihren Einrichtungen unterwegs. Was Redakteure in langen Texten versuchen zu beschreiben, kann er mit seinen Fotos – ab 2000 musste er auf Farbe umstellen – authentisch zeigen: ein Freudentanz vor der Dresdner Synagoge, eine alte Diakonisse mit ihrer Puppe, Menschen mit Behinderungen mit ihrer Lebensfreude. »Dieser Schatz an evangelischen Menschen ist wirklich herrlich«, sagt der Fotograf. Und dann sind da noch diese Dorfkirchen, die es ihm angetan haben. »Wenn ich dort in aller Ruhe mein Stativ aufbauen und die Kirche auf mich wirken lassen kann, dann sind das göttliche Momente«, sagt der Mann mit dem Kameraauge.
Nun übergibt Steffen Giersch seine kirchlichen Fotos an das Landeskirchliche Archiv in Dresden. Wie viele analoge und digitale Fotos sowie Negative da in Kisten, Ordnern und Festplatten sind? »Ich weiß es nicht. Nicht mal ungefähr«, beteuert er. Marco Krahmer, der die Fotos im Archiv jetzt einzeln katalogisiert und damit für die Öffentlichkeit such- und findbar macht, schätzt sie auf über 130 000. Archivleiterin Kristin Schubert freut sich und sagt: »Das ist ein Fundus landeskirchlicher Ereignisse. Es ist von Umfang, Zeitraum und Vielfalt her einmalig für uns.«
Und die Zukunft von Steffen Giersch? Sie leuchtet immer noch – und gerade wieder. Natürlich fotografiert er als junger Großvater weiter. Zudem erhält er am 17. November während der Herbsttagung der sächsischen Landessynode in Dresden den Sonderpreis des Evangelischen Medienpreises für sein Lebenswerk. Und danach will er mit seinem Freund und Nachbarn Dietrich Flechtner wieder einer alten Leidenschaft nachgehen. Gerade haben beide am Wohnhaus in Stolpen ein Fotolabor eingerichtet. Für Schwarz-Weiß-Fotografie und eigenhändige Abzüge. »Ich muss das einfach machen. Ich bin schon bissel besessen.«
Exklusiv für Sie – Impressionen aus den »Sonntagsgeschichten« von Steffen Giersch:
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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