Wirkte Gott im Herbst 1989?
Friedliche Revolution: Für Viele ist der Herbst 1989 ein »Wunder Gottes«. Doch war Gott wirklich im Spiel? Ein Blick in die Geschichte warnt vor voreiligen Schlüssen.Wenn das Leipziger Lichtfest am 9. Oktober jenes Tages vor 28 Jahren gedenkt, der Deutschland grundlegend veränderte, dann wird sicherlich auch wieder Gott im Munde geführt. Eben weil es für Viele, die damals dabei waren, bis heute unfassbar ist, dass diese entscheidende Montagsdemonstration gewaltlos verlief, ist oft die Rede von einem Wunder Gottes.
Der frühere Nikolaikirchenpfarrer Christian Führer (1943–2014) prägte den Satz, dass die Friedliche Revolution ein »Wunder biblischen Ausmaßes« gewesen sei. Und viele andere Christen sprechen ähnlich. Der damalige katholische Bischof Sachsens, Joachim Reinelt, sagte einmal, er sei überzeugt, dass Gott in diesen Ereignissen seine Hand im Spiel gehabt habe. Und der Begründer der »Schwerter-zu-Pflugscharen-Aktion« Harald Bretschneider schrieb einmal über die günstige politische Großwetterlage des Jahres 1989: »Es ist Geschenk und Ausdruck von Gottes Güte.«
Die Aufzählung solcher Äußerungen ließe sich beinahe endlos fortsetzen. Nur noch erwähnt sei an dieser Stelle der Dichter Ulrich Schacht, der im Blick auf die »christlich inspirierte Revolution« von 1989 von der »eingreifenden Heilsökonomie Gottes« sprach.
Solche Sätze sind zutiefst verständlich, drücken sie doch in einer Art Dankgebet die Erfahrung aus, damals bewahrt und geführt worden zu sein. Angesichts der unerwartbaren Entwicklungen des Herbstes 1989 fällt es schwer, das Wort Wunder nicht in den Mund zu nehmen.
Doch da gibt es ein Problem. Wie kann man so vollmundig von Gottes Eingreifen in die Geschichte sprechen, wenn doch wenige Jahrzehnte zuvor die Deportationszüge ungebremst in deutsche Vernichtungslager rollten? Warum hat Gott dort nicht eingegriffen? Die Theologin Dorothee Sölle (1929–2003) sagte einmal: »Nach Auschwitz kann man die Liedstrophe ›Lobe den Herren, der alles so herrlich regieret‹ nicht mehr singen.« Angesichts der geschichtlichen Katastrophen führe kein Weg zurück zum Kindervater, der Wolken, Luft und Winden Wege, Lauf und Bahn gibt, so Sölle.
Gleichzeitig geht für sie aber die Sache Gottes in dieser Welt weiter: In jedem Augenblick, da ein Mensch sich eines anderen annimmt, da er hilft, heilt und einsteht für jene, die unter die Räder gekommen sind. Für Sölle ist klar: »Gott hat keine anderen Hände als unsere.« Gott ist also in dem Sinne nicht tot. Vielmehr gilt sein Wirken nicht mehr als ein überweltliches und zauberhaftes – es ist »nur« noch vorstellbar als eines, das in und zwischen Menschen sich ereignet. »Christsein heißt nun nicht mehr: etwas sehen, was andere nicht sehen und wo andere nichts mehr sehen; es heißt nur, die eine Wirklichkeit anders sehen«, so Sölle. Und das bedeutet: Chancen sehen, wo andere aufgeben oder an Frieden glauben, wo andere im Hass versinken.
Insofern könnte der Herbst 1989 doch als eine Art Wirken Gottes bezeichnet werden – indem Menschen bewegt und getragen wurden von dem Glauben an die Gewaltlosigkeit und an die Veränderbarkeit bedrückender Verhältnisse.
Aus dieser Sichtweise folgt dann aber auch, dass es mit der Geschichte Gottes immer weiter geht. 1989 war nicht das »Ende der Geschichte«. Vielmehr gibt es auch heute viele Missstände, in denen Gott leidet und ruft.
Der Glaube an ein donnerndes Eingreifen Gottes »von oben« ist brüchig geworden. Der Glaube an Gottes Wirken durch und zwischen Menschen ist dagegen dringender notwendig denn je – dass Menschen diese Welt sehen mit den Augen der Liebe Gottes, ihre Ohren öffnen für sein Rufen in leidenden Menschen und Kreaturen und handeln.
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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