Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, hat ihren Rücktritt erklärt. Die 60-Jährige legt auch ihr Amt als Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen nieder, wie sie am Montag in Bielefeld vor Journalisten erklärte. Sie reagiert damit auf Vorwürfe gegen sie wegen des Umgangs mit einem mutmaßlichen Fall sexualisierter Gewalt in ihrem ehemaligen Kirchenkreis.
Wie die EKD mitteilte, äußerte sich Kurschus in einer medienöffentlichen persönlichen Erklärung in Bielefeld wie folgt (es gilt das gesprochene Wort):
»Die Evangelische Kirche von Westfalen und die Evangelische Kirche in Deutschland sind seit Jahren der Mittelpunkt meines Lebens. Nicht nur meine Tage, auch mein ganzes Denken und Handeln sind davon bestimmt. Daran hat sich nichts geändert. Doch in den letzten Tagen haben sich Ereignisse überschlagen. Aus einem zunächst rein lokalen und regionalen Vorgang wurde ein Fall von bundesweiter Bedeutung. Inzwischen hat sich die Lage derart zugespitzt, dass es für mich nur eine Konsequenz gibt, um Schaden von meiner Kirche abzuwenden: Ich trete von beiden kirchlichen Leitungsämtern zurück.
In der Sache bin ich mit mir im Reinen. Ich habe zu jeder Zeit nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Seit mehr als einer Woche wird in der Öffentlichkeit ein Konflikt geschürt. Ein Konflikt zwischen Betroffenen von sexualisierter Gewalt und mir als Amtsträgerin. Diesen Konflikt möchte ich schon deshalb auf keinen Fall austragen, weil das die Erfolge gefährden könnte, die wir in der Aufarbeitung und Bekämpfung sexualisierter Gewalt gemeinsam mit Betroffenen in vielen Jahren errungen haben. Und die es weiterhin zu erringen gilt. Für die Menschen, die hier an der Arbeit sind, stehe ich. Ihnen will ich nicht mit Schlagzeilen durch einen Verbleib im Amt schaden.
Der Kirchenkreis Siegen-Wittgenstein und meine westfälische Landeskirche setzen sich seit Anfang dieses Jahres mit Verdachtsfällen sexualisierter Gewalt auseinander, die zum Teil Jahrzehnte zurückliegen. Die Verantwortlichen arbeiten mit all ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln daran, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Dabei werden die Betroffenen durch die Kirche intensiv unterstützt.
Der Verdacht richtet sich gegen einen Mann, mit dessen Familie ich lange befreundet war. Nie stand ich zu ihm in einem Dienstverhältnis, auch nicht zu meiner Zeit als Pfarrerin und Superintendentin im Kirchenkreis Siegen. Ich wünschte, ich wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam, geschult und sensibel für Verhaltensmunster gewesen, die mich heute alarmieren würden. Ich habe allein die Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten wahrgenommen.
Mein aufrichtiges Bemühen darum, Persönlichkeitsrechte zu schützen – auch beschuldigte Menschen und deren Familien sind und bleiben Personen mit Rechten! -, wird als mangelnde Transparenz kritisiert. Als der Versuch, meine eigene Haut zu retten oder mein kirchliches Amt zu schützen. Das ist umso bitterer, als es mir niemals – und das betone ich ausdrücklich! - niemals darum ging, mich aus der eigenen Verantwortung zu stehlen, wichtige Fakten zurückzuhalten, Sachverhalte zu vertuschen oder gar einen Beschuldigten zu decken.
Inzwischen hat die Frage nach meiner Glaubwürdigkeit öffentlich eine derartige Eigendynamik entfaltet, dass eine absurde und schädliche Verschiebung eingetreten ist: Statt um die Betroffenen und deren Schutz geht es seit Tagen ausschließlich um meine Person. Das muss endlich aufhören. Es zieht die Aufmerksamkeit ab von den Betroffenen und von der Aufklärung des Unrechts, das ihnen angetan wurde. Um diese Aufklärung geht es. Diese Aufklärung gehört in den Fokus.
In aller evangelischen Freiheit zu aktuellen gesellschaftspolitischen Fragen pointiert Stellung zu nehmen, theologisch auch Unbequemes klar beim Namen zu nennen: All das wird mir durch die aktuelle Entwicklung künftig nicht mehr so möglich sein, wie es die Ämter einer Ratsvorsitzenden und einer westfälischen Präses verlangen und wie es mir selbst am Herzen liegt. Deshalb - und nur deshalb! - trete ich heute mit sofortiger Wirkung von den Ämtern der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen zurück.
Dieser Schritt fällt mir nicht leicht. Ich habe ihn reiflich geprüft. Es ist eine schwerwiegende Entscheidung, nicht zuletzt für mich persönlich. Gern hätte ich mir noch mehr Zeit dafür gelassen. Aber in unserer westfälischen Kirche steht Ende dieser Woche die Tagung der Landessynode an. Da muss für die weiteren Planungen Klarheit herrschen.
Sie wissen: Ich habe die Aufgaben in beiden Ämtern mit Leidenschaft und Herzblut wahrgenommen. Aus dem Evangelium heraus meine Stimme zu erheben für diejenigen, die sonst wenig zu Wort kommen: Dafür schlägt mein Herz.
In beiden Ämtern liegt eine große Verantwortung, beide sind mit einem hohen Maß an öffentlicher Wirksamkeit verknüpft.
Der Dienst, der hier zu tun ist, lebt nicht allein von dem Vertrauen, das einzelne Menschen in mich setzen. Er setzt ein öffentliches Vertrauen in meine Person voraus. Dieses Vertrauen hat Schaden genommen. Und zwar ausgerechnet in dem Bereich, den ich beim Amtsantritt ausdrücklich zu meiner »Chefinnensache« gemacht habe.
Menschen, denen im Raum unserer evangelischen Kirche durch sexualisierte Gewalt schlimmes Unrecht angetan wurde, uneingeschränkte Aufklärung und Aufarbeitung dieses Unrechts zuzusichern: Das war meine erklärte Absicht. Mit den starken Möglichkeiten meiner Führungsposition alles zu tun, was strukturell solches Unrecht verhindern kann: Das war mein Ansinnen. Um diese Absicht, um dieses Ansinnen geht es unserer Kirche. Unbedingt. Dafür werde ich auch weiter einstehen.
Ich weiß, dass viele Menschen enttäuscht sind über meine Entscheidung.
Vor allem in meiner westfälischen Landeskirche: Gemeindeglieder, Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeitende, Mitglieder der westfälischen Kirchenleitung.
Mich haben persönliche Vertrauensbekundungen erreicht, die mich tief berühren. Danke dafür! Viele haben mich gebeten, im Präsesamt meiner Landeskirche zu bleiben. Es geht nicht.
Die Enttäuschten wissen: Ich kann meinen Dienst nicht wirksam tun, wenn meine Aufrichtigkeit öffentlich angezweifelt und infrage gestellt wird.
Mit Gott und mir selbst bin ich im Reinen, und so gehe ich sehr traurig, aber getrost und aufrecht.«
Kirsten Fehrs, Bischöfin von Hamburg und Lübeck und stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende, wird das Amt der Ratsvorsitzenden ab sofort kommissarisch führen. Sie drückte ihren Respekt vor der Entscheidung von Annette Kurschus aus: »Für den Rat der EKD verbindet sich mit dem Rücktritt von Annette Kurschus die Verpflichtung, den eingeschlagenen Weg bei Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt konsequent weiter voranzugehen.« Sie würdigte die Entscheidung von Annette Kurschus: »Dein Schritt, von allen Ämtern zurückzutreten, verdient Hochachtung. Diese Geradlinigkeit und Konsequenz hat auch unsere Zusammenarbeit im Rat der EKD geprägt. Über acht Jahre warst Du mit Herz und klugem Wort überall da, wo Du gebraucht wurdest. Dafür danke ich Dir im Namen des Rates und wünsche Dir viel Kraft und Gottes Segen für alles, was jetzt ansteht.«
Die SprecherInnen des Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt der EKD über Pressestelle der EKD reagierten mit folgendem Statement:
»Wir, die SprecherInnen der Betroffenenvertretung und der kirchlichen Beauftragten des Beteiligungsforums Sexualisierte Gewalt der EKD nehmen den Rücktritt von Frau Dr. h.c. Annette Kurschus als Ratsvorsitzende der EKD und als Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen mit Respekt zur Kenntnis und danken für Ihre persönliche Unterstützung des Beteiligungsforums.
Ihre Entscheidung, auf die Ämter zu verzichten, schützt unsere Arbeit vor weiteren Belastungen. Auch dafür sind wir dankbar. Die Rücktritte können ebenso den weiteren Prozess der Aufklärung – auch bzgl. der Vorwürfe gegen ihre Person – unterstützen. Es existiert nach wie vor ein Widerspruch der Darstellungen zu diesem Aspekt des Falles, der durch unabhängige Fachleute untersucht werden muss.
Der Schutz und die Unterstützung betroffener Personen müssen Priorität haben. Die Aufklärung und Ahndung der Taten in Siegen gehören, wie geschehen, in die Hände der Strafverfolgungsbehörden. Es liegt in der Verantwortung der Landeskirche für lückenlose und unabhängig durchgeführte Aufarbeitung zu sorgen. Dazu gehört auch stets die Frage des Umgangs mit der Tat durch alle beteiligten Personen. Wenn es arbeits- oder dienstrechtliche Pflichtverletzungen gab, sind entsprechende Konsequenzen zu ziehen.
Wir setzen unsere Arbeit mit großem Vertrauen in die Struktur des Beteiligungsforum in der bestehenden vertrauensvollen Art und Weise fort. Unsere Arbeit beruht auf der Selbstbindung der Organe der EKD, die die systematische Mitwirkung von Betroffenenvertreter*innen garantiert. Hieran hat sich nichts geändert.
Wir wünschen Bischöfin Kirsten Fehrs, die unserer Arbeit im Beteiligungsforum als Mitglied eng verbunden ist, viel Kraft und allen Erfolg in der schwierigen Aufgabe als kommissarische Ratsvorsitzende.«
Die EKD weist darauf hin, dass sich Betroffene von sexualisierter Gewalt im Raum der evangelischen Kirche und der Diakonie an die »Zentrale Anlaufstelle.help« sowie an die landeskirchlichen Ansprechpersonen für Betroffene sexualisierter Gewalt wenden können.
Anna-Nicole Heinrich, Präses der Synode der EKD, nahm die Rücktrittserklärung für die Synode entgegen: »Ich habe Respekt vor dem Schritt, von allen Ämtern zurückzutreten, mit dem Annette Kurschus zeigt, welchen Stellenwert konsequentes Handeln beim Thema sexualisierte Gewalt – gerade im Interesse der Betroffenen – für die evangelische Kirche hat.«
Heinrich dankte für die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Synode und Ratsvorsitzender. »Dein nachdenklicher Ton und deine klare Ausrichtung am Evangelium haben der Kirche in herausfordernden Zeiten gutgetan.« Die Präses der Synode der EKD führte weiter aus: „Ich hoffe, dass die Entscheidung von Annette Kurschus nun den notwendigen Raum für die weitere Aufarbeitung des Falles und des Umgangs mit ihm schafft. Die Landeskirche von Westfalen steht in der hohen Verantwortung, dieses zu gewährleisten.«
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