Liebe als das Maß der Dinge
Die Jahreslosung wirbt in einer Zeit der Krisen und Ungewissheiten für den Weg der Liebe. Darauf liegt Segen. Darauf kann vertraut werden.Waffenlieferungen, Klimagerechtigkeit, Schwangerschaftsabbruch, die kommenden Wahlen. Wir sitzen zusammen und diskutieren kontrovers über die aktuellen ethischen Herausforderungen. Wir haben Zeit, über vieles zu sprechen, was uns Einzelne bewegt. Neben dem Austausch von Argumenten schwingt noch etwas anderes mit: Wir prüfen uns gegenseitig, wo wir stehen. Es bilden sich unmerklich kleine Koalitionen, in denen man sich argumentativ unterstützt. Ich spüre, dass es je länger desto mehr darum geht, wer sich mit seiner Sicht durchsetzen wird. Als ich versuche, die Nächstenliebe als Maßstab ins Spiel zu bringen, bricht es aus einem heraus: »Mit der Nächstenliebe wird alles relativiert. Ich will Klarheit!«
Vor vier Jahren wurde die Jahreslosung von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen ausgewählt. Gerungen haben wir damals auch, um die geistliche Deutung von Zeitphänomenen und Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Entwicklungen, um das Miteinander in der Kirche und um öffentliche Positionierungen. Erinnern Sie sich noch an unsere Konflikte im Herbst 2019? Paulus schreibt einer Gemeinde, die mit Spaltungen zu kämpfen hatte. Es gab rivalisierende Gruppen, die sich anhand verschiedener Einstellungen zur Sexualität, zu Fragen religiöser Riten und zum Verhalten in der nichtchristlichen Gesellschaft bildeten. Es ging schließlich darum, wo und wie der Heilige Geist wirkt. Paulus versucht, an einigen Punkten für Klarheit zu sorgen, stößt dabei aber an Grenzen. Deshalb startet er einen neuen Versuch: »Ich will euch einen noch besseren Weg zeigen!« Der bessere Weg ist der Weg der Liebe. Das Hohelied der Liebe (1. Kor 13) ist das Präludium für den letzten Teil seines Briefes, der mit unserer Jahreslosung das Finale erlebt. Es entfaltet sich ein dreifacher Klang:
Es geht weniger um die richtige Tat, mehr um die Haltung. Die Jahreslosung verzichtet darauf, konkrete Taten beim Namen zu nennen. Wörtlich: »Alles unter euch geschehe in Liebe!« Alles – was so pauschal klingt, fragt grundsätzlich: Welche Motive treiben dich an? Wer darauf zu antworten versucht, wird unweigerlich dahin kommen, dass es zwar unterschiedliche Meinungen gibt, die Liebe zu Gott und zum Nächsten aber auch andere leitet. Das wird das eigene Urteil über fremde Positionen verändern. Das andere aber wird auch passieren. Eine neue Sensibilität entsteht. Eine Position kann noch so richtig sein. Wenn die Liebe fehlt, verliert der gemeinsame Hymnus seinen Wohlklang und mutiert zum Lärm. Paulus spricht von einer scheppernden Schelle.
Es geht weniger um den schnellen Effekt, mehr um die langfristige Wirkung. Im Hohenlied der Liebe werden fünfzehn Charakteristika der Liebe genannt. Die Mehrzahl beschreibt Dinge, worauf die Liebe verzichtet, etwa auf Eifersucht und Selbstdarstellung, Beleidigtsein und Schadenfreude. Zugleich haben die positiven Beschreibungen eher den Klang von Ausdauer und Geduld, Zuversicht und Nervenstärke. Es ist eigentlich gar nichts dabei, was mit einer konkreten Aktivität verbunden ist.
In unseren Tagen werden schnelle Lösungen für komplexe Probleme erwartet. Das betrifft die Kirche genauso wie die Welt. Wir wissen aber an vielen Stellen (noch) nicht, was die Lösungen sind. Umso wichtiger ist es, dass wir gut beieinanderbleiben und beim Debattieren über unsere Zeitfragen aufeinander hören und manchmal auch schweigen. Das wird uns stark machen.
Es geht weniger um das persönliche Glück, mehr um die Erfahrung der Verbundenheit. Wir haben Jahre erlebt, in denen die persönliche Entfaltung im Vordergrund stand. Das wendet sich, weil das kleine Glück immer kleiner wird. Paulus meint mit „in Liebe“ nicht nur die innere Motivation, sondern auch das Miteinander. Er hört eine göttliche Harmonie dann, wenn sich Viele und Vielfältiges zu einer großen Sinfonie verbinden. Dafür sieht er in der Gemeinde das entscheidende Potential. Sein Liebeslied ist kein Solostück. Es ist ein großes Beziehungsgeschehen.
Die Jahreslosung hat die Kraft, ein wirkliches Wort der Orientierung zu werden. Ich wünsche mir, dass es uns bestimmt, wenn wir miteinander um den richtigen Weg ringen, dass es uns ermutigt, wenn wir Ausdauer brauchen und dass es uns zusammenführt, wenn wir mit uns selbst beschäftigt sind.
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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