Vergiss mein nicht
Demenz: In Deutschland sind 1,8 Millionen Menschen von der Krankheit betroffen. Warum sie nicht länger ein Tabu sein und sich auch die Kirche engagieren sollte.In der Umgebung von Haus Henriette und Haus Katharina in Oranienbaum-Wörlitz in der anhaltischen Landeskirche fallen rote Holzwegweiser auf. Darauf steht mit großen Buchstaben: Spazierweg. Darunter finden sich einfache Aufgaben für die grauen Zellen. So fordern die Schilder zum Beispiel auf, die Entfernung von Oranienbaum in die Umgebung zu schätzen oder beim Singen aktiv zu werden: »Kennen Sie diese Melodien? Singen Sie mal mit«, heißt es da.
Der Spazierweg ist ein besonderes Projekt der Pflege- und Wohnheime der Johannesstift Diakonie in Oranienbaum, die über 40 Pflegeheimplätze in einem geschützten Demenzbereich verfügen. Landesweit gilt die Einrichtung als beispielhaft für die Betreuung dementer Menschen. Im lichtdurchfluteten Foyer zwitschern in einer Voliere zwei Wellensittiche. An den Wänden sind Porträts von Mitarbeiterinnen angebracht. Auch Pfarrerin Bärbel Spieker ist auf einem zu sehen. Die Pfarrerin der Evangelischen Kirchengemeinde Oranienbaum-Wörlitz ist einmal in der Woche zu Besuch in der diakonischen Einrichtung. »Die Bewohnerinnen und Bewohner laden mich in ihr Wohnzimmer ein.« Seit über drei Jahren geht sie inzwischen hier aus und ein. Während der Coronapandemie, als Pflegeeinrichtungen quasi abgeriegelt waren, gehörte die Pfarrerin auf Wunsch der Heimleitung zu den Ersten, die eine Impfung erhielten.
Einmal im Monat feiert sie Gottesdienst, bei anderen Besuchen wird im Sitzen getanzt. Musik spiele eine wichtige Rolle, weiß Ergotherapeutin Betty Schneider. Roland Kaiser, sagt sie, sei zwar noch nicht in Oranienbaum gewesen, aber statt seiner sorge Herr König regelmäßig für Livemusik. »Da tanzen die Leute, fast könnte man sagen, sie werfen ihre Stöcke beiseite. Sie blühen richtig auf.« Und Bärbel Spieker ergänzt: »Die strahlenden Gesichter zu sehen, ist ein Erfolg.«
Wie in der Landeskirche Anhalts, gehört die Seelsorge in den Alten- und Pflegeheimen in der Regel zum Aufgabenbereich von Ortspfarrerin oder Ortspfarrer. Im Kirchenkreis Naumburg-Zeitz zum Beispiel gab es früher eine Beauftragung für eine Altenseelsorgerin, die im Jahr einen »Vergiss-mein-nicht«-Gottesdienst für Demenzerkrankte und deren Angehörige gefeiert hat. Nachdem die Stelle nicht neu besetzt wurde, hatte die inzwischen ausgeschiedene Superintendentin Ingrid Sobottka-Wermke die Feier zunächst übernommen. Offen ist aktuell, ob und wie das Angebot weiter aufrechterhalten werden kann.
Im Johanniter-Krankenhaus in Stendal, das auch über eine geriatrische Station verfügt, begegnet Krankenhausseelsorgerin Eva Kames vielen betagten Patienten, darunter auch Menschen mit Demenzerkrankungen. Im Krankenhaus fehlten das sichere Umfeld, der gewohnte Tagesablauf und die bekannte Umgebung. »Deshalb sind Freundlichkeit und viel Geduld wichtig«, sagt Eva Kames. »Die Menschen mit Demenz bekommen genau mit, ob man ihnen wohlwollend und freundlich begegnet.«
Im Käthe-Kollwitz-Haus in Burg, einer Einrichtung der Cornelius-Werk Diakonische Hilfen, bietet der vollstationäre Pflegebereich Wohnraum für 22 Senioren. Die seelsorgerische Betreuung hat vor kurzem Martin Frehse übernommen. Mitte Oktober wird er zum Diakon in Neinstedt eingesegnet.
Zurück nach Oranienbaum-Wörlitz. In diesem Jahr hat das Pflegeheim Katharina mit dem speziellen Demenzbereich das 20-jährige Jubiläum gefeiert. Für Kathi Max, Einrichtungs- und Pflegedienstleiterin, ist Demenz eine gesellschaftliche Herausforderung über die Grenzen des Pflegeheimes hinaus: »Ein Demenzbereich ist nicht nur der geschützte Bereich, diese Insel, auf der ein paar Menschen leben. Das geht alle Menschen an, und es ist noch viel Aufklärung über dieses gesellschaftliche Tabuthema notwendig.«
Das beginne schon bei Kindern und Jugendlichen, ist sie überzeugt. Deshalb gebe es auch eine Kooperation mit der benachbarten Gesamtschule im Gartenreich Dessau-Wörlitz. »Wir sind zwar ein geschützter Bereich, aber die Tür ist auf, und Menschen mit Demenz haben Anteil am Leben in der Gemeinde.«
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