Das Alte Testament nur als Vorgeschichte des Neuen Testaments? Darüber streiten wieder Theologen. Wer die Bibel so liest, verpasst einiges – auch ihre jüdische Geschichte.
Die Strenge des Gesetzes im Alten Testament, die Liebe Christi im Neuen: So malte Lucas Cranach der Ältere Sündenfall und Vergebung, zu sehen in Weimar. ©
Constantin Beyer/ARTOTHEK
Dieses Gotteswort ist wie eine wärmende Decke, wie ein Trost in der Kälte. Kein Wunder, dass es bei vielen Taufen in Kirchen gesprochen wird: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.« Gemeint aber ist in dem Vers des Propheten Jesaja ursprünglich jemand ganz bestimmtes: das Volk Israel – nur wird dieser Adressat in der kirchlichen Ordnung für den Wochenspruch des 6. Sonntages nach Trinitatis bisher einfach weggestrichen.
Der gerade veröffentlichte Entwurf einer neuen Leseordnung für Bibeltexte in Gottesdiensten fügt die ursprünglichen Empfänger des Jesaja-Verses wieder hinzu und erhöht überdies den Anteil alttestamentlicher Texte von knapp einem Fünftel auf ein Drittel. Ein Ausdruck für erhöhte Wertschätzung der Hebräischen Bibel und des Gottesbundes mit Israel. Doch zugleich entzündete sich daran eine handfeste Debatte unter Theologen.
Das Alte Testament könne doch nicht die gleiche Bedeutung als Norm haben wie das Neue Testament, schrieb der Berliner Theologieprofessor Notger Slenczka. Denn Paulus und andere neutestamentliche Autoren hätten in der Begegnung mit Christus diese jüdischen Texte »radikal neubestimmt«. Der Widerspruch von Theologenkollegen folgte auf dem Fuß, große Medien stiegen ein. Will da einer das Alte Testament aus der Bibel werfen? Es wurde etwas inszeniert, was selten geworden ist: ein theologischer Skandal. Dabei hat Slenczka auf eine offene Frage hingewiesen, die sich in jedem Gottesdienst stellt: Liest man das Alte Testament mit historisch-kritischen Augen als ein Buch, das sich zuerst an das Volk Israel richtet – oder mit Augen, die vom Glauben an die Offenbarung Gottes in Jesus Christus her kommen? Geht beides zugleich?
»Natürlich kommen wir Christen immer daher, dass wir Jesus als Christus begegnet sind«, sagt der Theologe Timotheus Arndt von der Forschungsstelle Judentum der Theologischen Fakultät in Leipzig. »Aber wenn Jesus uns als Heiden an die Hand nimmt und einen Zugang zum Gott Israels zeigt, können wir in diesem Raum der Hebräischen Bibel weitere Entdeckungen machen. Sie redet nicht nur von Christus, sondern auch von uns Menschen, von Beziehungen. Wir wagen uns in unserer Kirche leider viel zu selten in diesen Raum hinein.«
Jesus selbst hat die Hebräische Bibel nicht anders gelesen als mit den Augen eines Juden. Ein Rabbi, der selbst das zentrale Gebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten aus der Thora zitierte. Der Israel erneuern wollte. »Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz und die Propheten aufzulösen«, sprach er, »ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen« (Matthäus 5,17).
Diese Sicht von Jesus Christus als Erfüllung der alttestamentlichen Hoffnungen prägte den Blick der Christen auf die Hebräische Bibel stark – und schuf ein Gefälle. Das Alte Testament als Ankündigung, nicht viel mehr. Dabei könne das Neue Testament Christus meist nur mit Worten der hebräischen Psalmen und Propheten umschreiben, so Frank Crüsemann, ehemaliger Professor für Altes Testament in Bielefeld. Er meint: Die Blindheit der Kirche gegenüber den hebräischen Wurzeln der Bibel habe den Antijudaismus nebst seinen schrecklichen Folgen mit bewirkt.
Der Leipziger Wissenschaftler und Pfarrer Timotheus Arndt liest mit Gewinn auch jüdische Auslegungen des Alten Testaments. »Denn es geht um denselben Gott, höchstens um verschiedene Gottesbilder – und es gibt die biblische Warnung vor Gottesbildern.« Auch dies ein jüdisches Erbe.
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