»Wohltat und Schandtat«
»Fall Ströer«: Betroffene sexuellen Missbrauchs werfen der Landeskirche Sachsens mangelnde Aufarbeitung und fehlende Transparenz vor. Sie fordern mehr Beteiligung und Suche nach Betroffenen.Seine Stirn legt sich in Falten. Seine Arme machen ausladende Bewegungen. »Umarmungen, feste Umarmungen«, zeigt Joachim Heymann angestrengt, wie er sich an die »Gespräche« mit Kurt Ströer erinnert. 65 Jahre liegen die Erlebnisse schon zurück, doch erst kürzlich seien die verdrängten Erinnerungen wieder hochgekommen. In der Einzelbeichte sei es dem früheren Jugendwart und Diakon Kurt Ströer »ausschließlich um sexuelle Tätigkeiten« gegangen, sagt Joachim Heymann. »Selbstbefriedigung war vollkommen sündhaft. Das musste man sofort bei ihm beichten«, erzählt der heute 80-Jährige. Dabei habe Kurt Ströer dann seinen Arm um ihn gelegt. »Doch als es mit der anderen Hand handgreiflicher wurde, bin ich abgehauen«, sagt er.
Er ist der Älteste der Gruppe von Betroffenen, die sich am Wochenende im Klosterhof St. Afra in Meißen zum jährlichen Austausch getroffen hat. 33 Ströer-Betroffene seien der Landeskirche bekannt, heißt es. 15 von ihnen – darunter kirchliche Mitarbeiter wie Pfarrer und Diakone – trafen sich auf Kosten der Landeskirche in Meißen. Gern möchten sie sich häufiger treffen, zweimal im Jahr, fordern sie. Denn sie wollen reden, sich gegenseitig erzählen von ihrem Leid mit dem sogenannten »Vater der evangelischen Jugendarbeit in Sachsen«. Sie wollen das in der Jugend Geschehene und die Traumatisierungen verarbeiten: »Zungenküsse«, »Hand unterm T-Shirt«, »Hand im Schritt«, zählen Betroffene auf. Die Taten reichten von einfachem bis schwerem sexuellen Missbrauch, ordnet der Psychotherapeut Gregor Mennicken ein. Er hat die Betroffenengruppe in Meißen begleitet, Gespräche moderiert und Einzelgespräche geführt.
»Von unserem Erleben zu erzählen, fällt schwer«, sagt Matthias Uhlich. »In unseren Treffen merken wir, wie sehr wir um Sprache ringen«, beschreibt er die Versuche, »sprachfähig zu werden«. Die Betroffenen stünden in einer »eigenartigen Spannung« gegenüber Kurt Ströer, »zwischen Wohltat und Schandtat«: Kurt Ströer habe bei ihm zum Beispiel die vakante Vaterstelle besetzt. »Er war mir Hilfe, hat mich in unsicherer Situation gestützt«, sagt Matthias Uhlich. Und zugleich habe er ihn und viele andere geistlich und sexuell missbraucht, beschreibt er »das Teuflische an der Sache«. Diese Erfahrungen der Betroffenen brauche es jetzt in der Landeskirche, um die Prävention voranzubringen. »Ohne Rückblick scheint mir der Blick nach vorn nicht möglich«, meint er.
Deshalb gehen die Betroffenen nun in die Offensive, wollen öffentlich – gern zur Landessynode – gehört und vor allem von der Kirche ernst genommen werden. »Ein Schuldbekenntnis der Institution Kirche« sowie ein »Statement der im Dunstkreis von Kurt Ströer tätigen Diakone und Vorgesetzten«, fordert der 80-jährige Jaochim Heymann. Warum der Jugendwart Kurt Ströer von 1956 bis 1986 im damaligen Kirchenbezirk Karl-Marx-Stadt II wirken konnte, obwohl es nach Angaben der Betroffenen Hinweise auf Missbrauch gegeben habe, das treibt Betroffene wie Joachim Heymann um. Vorher könne er das Geschehene nicht »emotional ad acta legen«.
Das Buch, das Kurt Ströer über seine Bekehrungen von Menschen zu Gott führte, listet übrigens 1473 Namen auf. Deshalb gehen die Betroffenen von einer deutlich höheren Zahl als der jetzt bekannten 33 Ströer-Opfer aus. Manche sprechen von einer dreistelligen Zahl. »Es war mir nicht möglich wegzulaufen«, sagt Matthias Oberst, der Sprecher der Betroffenengruppe. »Ich behaupte, es war Gehirnwäsche, was Kurt Ströer mit uns gemacht hat.« Der Missbrauch habe bei ihm sechs Jahre gedauert. »Er hat uns alle um unsere gesunde Entwicklung gebracht«, so Matthias Oberst.
Für Betroffene wie Michael Martin kommt belastend hinzu, dass er viele Jahre und mehrere Anläufe gebraucht hat, um den Stein der Aufarbeitung überhaupt ins Rollen zu bringen. Schon im Jahr 2000 habe er die Diakonengemeinschaft Moritzburg über den Missbrauch informiert, vor zehn Jahren dann Kurt Ströer im Landeskirchenamt angezeigt. Nur auf sein Drängen hin sei in einem Rundschreiben an alle Mitglieder der Diakonengemeinschaft über die Vorwürfe informiert und der Name Ströer genannt worden. Tatsächlich meldeten sich einige Diakone mit ähnlichen Erfahrungen. Doch dabei sei es dann geblieben.
Als 2013 Kurt Ströer mit 91 Jahren starb, waren die Nachrufe voll des Lobes, auch in der Diakonengemeinschaft. Michael Martin trat deshalb aus. »Das war eine Befreiung«, sagt der 60-Jährige, der aber immer noch für die Kirche arbeitet. 2021 wandte er sich dann mit drei weiteren Betroffenen an die »Freie Presse«. Erst dann reagierte auch die Landeskirche. Sie berief unter anderem eine Arbeitsgruppe zur theologischen Aufarbeitung und lässt in einer wissenschaftlichen Studie (ForuM) die Fälle aufarbeiten. Für Herbst werden Ergebnisse erwartet, teilt das Landeskirchenamt mit. Dann soll auch die Aufarbeitung mit den Betroffenen in der Landeskirche beginnen.
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