Sind wir zu obrigkeitshörig?
Viele Jahrhunderte galt für die evangelische Kirche das strikte Gebot aus Römer 13, der staatlichen Obrigkeit untertan zu sein. Wirkt das insgeheim noch heute?Ja, denn immer noch ist die kirchliche Schuldgeschichte der Anpassung an Diktaturen nicht aufgearbeitet. Auch heute fehlt es an kritischem Abstand zum Kapitalismus.
Karsten Krampitz (49) ist Historiker, Journalist und Schriftsteller. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Jedermann sei untertan« über den deutschen Protestantismus im 20. Jahrhundert. Foto: Uli Decker
Schon immer gab es Theologen, die meinten, die Geschichte wäre aufgearbeitet. Während sich die Kirche nach dem »Stuttgarter Schuldbekenntnis« (1945) bei den Alliierten für Kriegsverbrecher und andere Nazis einsetzte, verkündete 1949 Hanns Lilje, Bischof von Hannover und stellvertretender EKD-Ratsvorsitzender, das Ende aller Aufarbeitung: »Der Augenblick ist gekommen, mit der Liquidation unserer Vergangenheit zu einem wirklichen Abschluss zu kommen.« Geschichte aber ist niemals abgeschlossen, schon weil jede neue Generation das Recht hat, die Geschichte noch einmal neu zu schreiben – und sei es die Geschichte der DDR-Kirchen im Kontext von Römer 13.
Im Rückblick stellt die »Kirche im Sozialismus« ein Phänomen dar: Obwohl der Schrumpfungsprozess anhielt, nahm ihr politisches Gewicht mit jedem Jahr zu – allerdings erst in der Ära nach Otto Dibelius. Die Thüringer Landeskirche stellt dabei in ihrem Opportunismus die große Ausnahme dar. Bischof Werner Leich erklärte 1986 gegenüber Westjournalisten: »Die Kirche ist als Gesprächspartner akzeptiert, und der Staat kann sich darauf verlassen, dass die Kirche nicht in die Opposition geht.« Auf die Frage nach der Friedensbewegung sagte er: »Es gibt keine organisierten Friedensgruppen. Die jungen Menschen arbeiten mit in der Jungen Gemeinde.« Leichs Vorgänger im Bischofsamt, Ingo Braecklein, arbeitete viele Jahre mit dem MfS zusammen (IM »Ingo«) und erhielt dafür unter anderem den Vaterländischen Verdienstorden in Gold, wie schon sein Vorgänger Moritz Mitzenheim, der den 17. Juni 1953 als »faschistische Provokation« bezeichnet hatte.
Eine ähnliche Nähe zum Staat hatte der Theologe Walter Grundmann, im Dritten Reich akademischer Direktor des Instituts zur »Entjudung« von Kirche und Theologie. 1955 berief ihn Bischof Mitzenheim zum Leiter des Katechetischen Seminars in Eisenach; auch Grundmann verriet der Stasi regelmäßig Interna aus der Kirche. Kurzum: Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen, die es heute nicht mehr gibt, hätte jeden Grund, Buße zu tun. Nicht aber die Kirche in Erfurt, die seinerzeit zur Kirchenprovinz Sachsen gehörte. Um das aber zu verstehen, muss man Geschichte als Ganzes annehmen. Der Magdeburger Bischof Werner Krusche bekam eben keinen Vaterländischen Verdienstorden; Partei und MfS schätzten ihn als »feindlich negativ« ein. Heino Falcke, Propst in Erfurt, war einer der spannendsten Intellektuellen in der DDR. Seine »Freiheitsrede«, gehalten im Jahr 1972 vor der Synode des DDR-Kirchenbundes, gilt als das historische Ereignis im DDR-Protestantismus! Unter der Überschrift »Jesus befreit – darum Kirche für andere« sprach Heino Falcke vom »verbesserlichen Sozialismus«. Für die Friedens und Umweltgruppen, die später in den Räumen der Kirche Schutz fanden, bekam diese Formel eine programmatische Bedeutung. Sie ermöglichte ein kritisches Denken, Reden und schließlich auch Handeln, ohne dass der oder die Einzelne vom SED-Staat als Gesetzesbrecher denunziert werden konnte. Auf einmal war die Kirche nicht nur ein Raum der Kontemplation, sondern der Aktion. Dass der Bund der Evangelischer Kirchen in der DDR (BEK) seinerzeit eine bessere DDR wollte und gleichzeitig an der engen Verbindung zur EKD festhielt, lässt sich heute offenbar schwer kommunizieren. Peinliche Bußerklärungen, mit denen man sich dem rechten Zeitgeist unterwirft, sind da nicht zielführend. Und vielleicht redet in der Kirche mal jemand vom »verbesserlichen Kapitalismus«? Karsten Krampitz
Nein, denn wir haben gelernt. Das Gebot der Obrigkeitshörigkeit wurde durch die westdeutsche Kirche überwunden. Heute wird die pluralistische Demokratie bejaht.
Rochus Leonhardt, Jahrgang 1965, ist Professor für Systematische Theologie in Leipzig. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Religion und Politik im Christentum«. Foto: Elfriede Liebenow
Die Behauptung einer im deutschen Protestantismus besonders ausgeprägten Obrigkeitshörigkeit gehört zum Standardrepertoire der Kirchenkritik. Danach war die historische Entwicklung des evangelischen Kirchentums von Anfang an durch solche – bis heute spürbare – Obrigkeitshörigkeit bestimmt. In seinem 2017 erschienenen Buch hat der Historiker Karsten Krampitz diese These in zweierlei Hinsicht präzisiert. Erstens: Er unterscheidet die historische Phase zwischen 1517 und 1918 von der Zeit nach 1918. Während die Verfehlungen der ersten 400 Jahre als zeitbedingt erklärt werden, lehnt Krampitz für die im 20. Jahrhundert beschrittenen Irrwege jede Relativierung ab. Zweitens: Keinen Teil dieser Schuldgeschichte bildete nach Krampitz der Weg des Protestantismus in der DDR; dieser mit der Wiedervereinigung abgebrochene Sonderweg habe die ostdeutschen evangelischen Kirchen mit ihrer gesellschaftskritischen Kraft zu Wegbereitern der Demokratie gemacht. Ich halte beide Zuspitzungen für falsch.
Zum ersten Punkt möchte ich auf Otto Dibelius verweisen. Er war es, der eine christliche Gehorsamspflicht gegenüber politischen Autoritäten daran gebunden hat, dass diese rechtsstaatlich agieren. Damit hat ausgerechnet ein Lutheraner eine im Luthertum geläufige Deutung von Römer 13 hinterfragt. Diese ausdrückliche Relativierung der tradierten protestantischen Obrigkeitshörigkeit richtete sich damals konkret gegen den Totalitarismus der zweiten deutschen Diktatur. Deren kirchenpolitischen Protagonisten hatten die Geltung des Verfassungsrechts durch willkürliche Machtausübung konterkariert.
Zweitens zum Lob des ostdeutschen Sonderwegs: Dieser lässt sich nicht nur durch die vieldeutige Formel »Kirche im Sozialismus« kennzeichnen. Typisch ist auch die 1956 von Günter Jacob ins Spiel gebrachte Rede vom »Ende des Konstantinischen Zeitalters«. Damit war gemeint, dass die Verkündigungsarbeit der Kirche in der DDR ohne staatliche Privilegien agierte, eine Konstellation, in der man die urchristlichen Anfänge wiederzuerkennen meinte. So galt gerade die Not der Rechtsunsicherheit in der DDR als Chance zur Ausbildung einer wahrhaft authentischen Verkündigung. Diese theologische Aufwertung der eigentlich unfreiwilligen Nischenexistenz hat sich vielfach mit einer Sympathie für gesellschaftliche Homogenitätsmuster und einem Unbehagen am Pluralismus verbunden. Ein engagiertes »Ja« zur pluralistischen Demokratie hat dagegen gerade die westdeutsche EKD in ihrer Demokratie-Denkschrift von 1985 formuliert. Doch auch im Blick auf das konkrete Engagement für politisch bedrängte Christen scheint die Bilanz des DDR-Protestantismus nicht makellos zu sein. Dies belegt das Erfurter Bußwort der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands von November 2017, das diejenigen Menschen um Vergebung bittet, die während der DDR-Diktatur nicht ausreichend Unterstützung bekamen.
Die viel beschworene Obrigkeitshörigkeit des Protestantismus ist also maßgeblich im Horizont der altbundesdeutschen EKD überwunden worden. Die in der 1985er Demokratie-Denkschrift »Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe« formulierten Aussagen sind nach meiner Auffassung im Grundsatz auch heute noch richtig. Der opportunistischen Politisierung und Moralisierung des evangelischen Christentums kann durch ihre Fortschreibung begegnet werden – und nicht durch die Idealisierung eines gescheiterten Sonderwegs. Rochus Leonhardt
Buchempfehlungen:
Karsten Krampitz: »Jedermann sei untertan«. Deutscher Protestantismus im 20. Jahrhundert. Alibri Verlag 2017, 352 S., 20 Euro.
Rochus Leonhardt: Religion und Politik im Christentum. Vergangenheit und Gegenwart eines spannungsreichen Verhältnisses. Nomos-Verlag 2017, 477 S., 98 Euro.
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