Für eine leuchtende Kirche
Weckruf: Wie soll Kirche sein? Unser Autor beobachtet eine lähmende Harmoniesucht – nach der Devise: Einfach lächeln, nicht stören, dann wird es schon nicht so schlimm werden. Doch er meint: Erst damit wird es schlimm. Er setzt auf die Vision einer Kirche, die mutig zeigt, wofür sie steht.
Fünfhundert Jahre nach der Reformation leben wir im Zeitalter der Kirchenaustritte. Und, ganz ehrlich: ich könnte mir keine bessere Zeit vorstellen, um Pfarrer oder überhaupt kirchlich aktiv zu werden. Wenn alles den Bach runtergeht, muss man schon mal nicht nebenherlaufen. Und es gibt viel auszuprobieren in den stürzenden Fluten: Kanus, Motorboote, Tretboote, Badehosen in allen Farben und Formen, Flamingo-Schwimmreifen (meine Wahl). Das Tempo ist rasant. Aber vielleicht bringt uns das schneller ans Ziel als ein Strudel, der sich selbst umkreist. In meinem Vikariatsjahrgang sind wir vierzehn angehende Pfarrerinnen und Pfarrer. Vierzehn grundverschiedene Visionen von Kirche. »Was ist Ihre, Herr Brandl?« wurde ich mal gefragt. Und ich war unschlüssig. Ich habe irgendetwas Belangloses geantwortet, etwas, das niemandem wehtut. Doch dann merke ich: So läuft das nicht. Es muss knallen, leuchten, blitzen. Also: Zum Reformationstag ein Wunschkonzert!
Ich will eine heillos heruntergekommene Kirche. Und eine grotesk aufgebrezelte Kirche. Ich will eine linksgrünversiffte und eine bürgerlich-wertkonservative Kirche. Ich will Pfarrerinnen und Pfarrer, die zu ihren Botox-Injektionen stehen, und ich will die, die ihr graues Haar bis zum Po wachsen lassen und bei denen man nie sicher sein kann, ob sie außer Talar und Birkenstock noch etwas tragen.
Ich will die penetranten Genderstern-Verfechter*innen, die die Gottesebenbildlichkeit transidenter Personen feiern, und die, die vor dem Zu-Bett-Gehen zum Nachtkästchen greifen und sanft über ihren Lutherbibel-Nachdruck von 1534 streichen, weil es seither schließlich nur noch bergab gehe mit der deutschen Sprache.
Ich will diejenigen in Protestcamps sehen, die Greta Thunberg kurzerhand zur Prophetin erklären und sie, ohne mit der Wimper zu zucken, in eine Reihe mit Propheten wie Amos oder Hosea stellen. Und ich will scharfe Einwände von denen hören, die ahnen, was passiert, wenn wir Menschen wie Götzen aufs Podest stellen.
Ich will eine Kirche, bei der einem die Spucke wegbleibt. Die nicht weltfremd ist, sondern die Fragen der Zeit sieht, aber Antworten gibt, so unerhört, dass einem die Ohren schlackern. Ich will alles – außer höfliches Mittelmaß!
Die Pietisten sollen Jesus feiern, aber warum nicht mal beim Christopher-Street-Day? Die mystisch Angehauchten sollen in Klöstern schweigen, aber warum nicht ein digitales Tagebuch führen und es anderen Suchenden zur Verfügung stellen?
Die Kulturprotestanten sollen die Künste pflegen, aber warum nicht mal, statt Weihnachtsoratorium Nr. 1257, die Schneiderkunst feiern und Kirche zum Catwalk umgestalten? Die Friedens- und Ökologiebewegten sollen für Gottes Schöpfung und gegen Braunkohleabbau auf die Straße gehen, aber warum nicht gemeinsam mit ihren Konfirmandinnen und Konfirmanden? Und so weiter!
Was es dazu meines Erachtens braucht: Mehr Vernetzung über Grenzen wie Gemeinden und Kirchenbezirke hinaus, am einfachsten digital. Eine Kultur des rotzfrechen Experimentierens und eine Kultur des gelassenen Scheiterns. Eine landeskirchliche Förderungspolitik, die leuchten lässt – auch wenn manche dann mal im Schatten stehen. Eine wirklich einladende Öffentlichkeitsarbeit. Räume und Zeiten, in denen Haupt- und Ehrenamtliche den Geist Gottes wahrnehmen können, um zu merken, was Gott alles an Gutem in sie gelegt hat.
Und Lust. Ganz viel Lust. Ich glaube: Niemand muss sich verdrehen oder verleugnen. Aber das, was wir sind und haben, auf den Scheffel stellen und leuchten lassen. Das ist gut biblisch. Und gut für die Welt. Mit diesem Selbstbewusstsein dürfen wir in die Post-Corona-Ära der Zwanziger starten. Liebe Kirche: Das wird unser Jahrzehnt! Go, go, go!
Alexander Brandl ist Vikar in München und Sinnfluencer im YEET-Netzwerk.
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