Dem Missbrauch vorbeugen
»Fall Ströer«: Bei der Aufarbeitung von sexuellem und geistlichem Missbrauch in der Landeskirche geht es auch um die Frage, wie die Rolle des Seelsorgers und der Umgang mit Macht reflektiert werden.
Es erschüttert, dass Missbrauch in der Kirche bzw. in der Seelsorge mit sexuellen und spirituellen Übergriffen verbunden war. So auch im Fall des sächsischen Diakons und Jugendwarts Kurt Ströer. Bei den vorgeworfenen Missbrauchsgeschehen ist sowohl von körperlich-sexuellen, seelischen als auch von geistlichen Gewaltausübungen auszugehen. Die Aussagen von Betroffenen bringen die Vorwürfe sexueller und spiritueller Gewalt Ströers mit dessen Seelsorgepraxis in Verbindung, insbesondere der Beichte. Sie erwähnen dabei Inhalte der Seelsorge, die mit den Übergriffen in Verbindung standen, nämlich Themen der Sexualmoral und Sexualpraxis.
Historisch gesehen bewegen wir uns beim Fall Ströer in einer Phase, die vergangen ist und deren Merkmale es heute so nicht mehr gibt. Ströers Seelsorgepraxis ist im Zusammenhang der Seelsorgepraxis des Volksmissionskreises Sachsen zu verorten, dem er nahestand und der in den 1950er bis 80er Jahren die charismatische Spiritualität in der sächsischen Landeskirche verkörperte. Für den volksmissionarischen Gemeindeaufbau spielt Seelsorge eine zentrale Rolle. Sie war bestimmt vom zweigeteilten Schema zwischen »Innen« und »Außen«, »Gerettet« und »Verloren«, »Vollmacht« und »Ohnmacht«. Das Dazugehören und die entsprechende Lebensführung sind Kernthemen. Die Seelsorgekultur betonte die Autorität des Seelsorgers. Die praktizierte Einzelbeichte ist dabei das Kriterium für authentisches Christsein.
Themen der Sexualität gehörten standardmäßig dazu, womit die Felder Ehe, Ehebruch, vor- und außereheliche Sexualkontakte, im Kontext der Kinder- und Jugendarbeit auch das Thema Masturbation angesprochen sind. Nicht selten riefen Mitarbeiter, etwa im Rahmen einer Evangelisation, zur Beichte bzw. zur seelsorgerlichen Aussprache auf. Dabei wurden nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder im Konfirmanden- und Vorkonfirmandenalter angesprochen. Es bestätigt sich, dass die Praxis der „Kinderbeichte“ des Volksmissionskreises u. a. auf den Bereich der Sexualität abzielte.
Zu den Seelsorgemerkmalen gehörten im Unterschied zur damals üblichen kirchlichen Seelsorge auch die ausdrückliche Nennung des Namens Jesu, die Gebärde der Handauflegung sowie die Absage des Seelsorgesuchenden an die Macht des Bösen in Form eines Gebets auf Knien.
Die Themenbereiche Sexualität, Beichte und exorzistische Seelsorge genauso wie direktive Seelsorgepraxis sind demnach keine Spezialitäten der Ströerschen Verkündigung und Seelsorge, sondern waren seinerzeit viel mehr verbreitet, als unsere heutige Praxis vermuten lässt. Zugleich sind daraus aber Einsichten für heutiges kirchliches Handeln zu gewinnen. Missbrauch ist keine Frage der Frömmigkeit, sondern des Umgangs mit Macht, Rolle und der eigenen Person. Zuerst ist Missbrauch der Missbrauch von Autorität, welcher dann als geistliche oder sexuelle Gewaltanwendung auftritt. Dies ist in allen kirchlichen Lagern von evangelikal bis liberal wahrnehmbar.
Wie aber kann spirituellem und sexuellem Missbrauch in der Kirche vorgebeugt werden? Zu reflektieren sind die Rolle des Seelsorgers und dessen Macht. Abhängigkeiten können dann durchschaut, vermieden oder aufgelöst werden, wenn Seelsorgende selbst sie wahrnehmen und sich nicht als Situationsmächtige anbieten sowie ihre eigenen Bedürftigkeiten und Abhängigkeiten erkennen. Es gilt, auch in der Kirche Macht als Problem aufzudecken.
Es geht darum, Menschen in gemeindlichen und anderen Zusammenhängen theologisch und geistlich zu befähigen, sich bei religiösen Erwartungen eine eigene Meinung bilden zu können und ihr Handeln selbst zu entscheiden und durchzusetzen. Befähigung und Emanzipation widersprechen allen Abhängigkeitsverhältnissen und jedem Klerikalismus.
Dr. Markus Schmidt ist Pfarrer im Ehrenamt der Landeskirche Sachsens und lehrt als Professor für Praktische Theologie an der Fachhochschule der Diakonie in Bethel.
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