Missbrauch durchschauen
Aufarbeitung: Mit der großen ForuM-Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche wird ein großer Schritt der Aufarbeitung gegangen. Welche Lehren lassen sich daraus ziehen?Bei der ForuM-Studie wurde erstmals eine große Bandbreite von Stimmen der Betroffenen durch Interviews einbezogen. Allerdings ist es ernüchternd, dass es aufgrund der Verwaltungsstrukturen der Landeskirchen nicht gelungen ist, Personalakten in die Untersuchung einzubeziehen. Nur eine einzige der 20 Landeskirchen konnte ihre Personalakten zur Verfügung stellen. Das schränkt die Studie ein.
Die große Frage ist die nach den spezifisch evangelischen des Umgangs mit der Macht.« Bedingungen sexuellen Missbrauchs. Dabei räumt die Studie mit der althergebrachten Annahme auf, das Missbrauchspotenzial überwiege in der römisch-katholischen Kirche. Diese Ansicht, in der katholischen Kirche gebe es prozentual mehr Missbrauchsfälle als in der evangelischen Kirche, entpuppt sich als nichts anderes als ein antikatholischer Reflex. Ebenso lässt sich die Meinung, der Zölibat wäre eindeutig eine Bedingung für verstärktes Missbrauchspotenzial, nicht halten. Im Gegenteil bestätigt die Studie das, was andere Forschungen bereits vermuten ließen: Missbrauch kommt vor allem dort vor, wo eine Gemeinschaft mit hohen Idealen besteht: z. B. das Ideal moralischer Integrität (Pfarrer machen keine ungehörigen Dinge) oder der Fortschrittlichkeit (liberal statt fundamentalistisch, evangelisch statt katholisch). Idealisierte Gemeinschaften finden sich nicht nur im katholischen Kloster, sondern auch im evangelischen Pfarrhaus.
Spezifische Bedingungen liegen der Studie zufolge auch in den Idealen der evangelischen Identität: z. B. eine Gemeinschaft von geretteten Sündern zu sein – wobei das »Gerettetsein« auf den Appell zur Versöhnung und auf Konfliktunfähigkeit hinweist. Dies bedeutet auch, das institutionelle Gesicht wahren zu wollen. Betroffene erleben dies als Ignoranz und Alleingelassenwerden.
Durch die verschiedenen Disziplinen der Studienautoren – Soziale Arbeit, Psychologie, Forensik usw. – konnte fachlich versiert gearbeitet werden. Es fragt sich allerdings, wo hier die Theologie bleibt. Dabei macht die Studie selbst hochinteressante theologische Einsichten deutlich: So zeigt sie, dass der Kern der evangelischen Theologie, nämlich die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein durch die Gnade Gottes, auch ein strukturelles Gefahrenpotenzial beinhaltet: Weil Gott jedem jede Sünde vergeben kann, erwarten wir voneinander bedingungslos Vergebung. Wie aber kann ich Vergebung, nämlich von Betroffenen, erwarten, wenn ich nicht zuvor veritable Reue gezeigt habe? Die Reue wiederum spielt in der evangelischen Lehre von Buße und Vergebung seit Luther begründet keine Rolle.
In Sachsen stand in den letzten Jahren der »Fall Ströer« im Fokus. Rein statistisch gesehen, ist es aber unwahrscheinlich, dass es keine weiteren als die bisher bekannten Fälle geben sollte. Die Studie widerlegt die häufig zu hörende Meinung, bei einem Täter oder einer Tat handele es sich um einen Einzelfall. Dies ist ein Abwehrmechanismus ebenso wie die Meinung, die Taten seien in den theologisch-frömmigkeitlichen Positionen des Täters gegründet. Die Studie gibt keine statistischen Anzeichen zu erkennen, dass bestimmte Spiritualitäten oder Theologien als ursächlich für Missbrauch anzusehen wären. Dies spricht für meine These, dass Missbrauch in allen theologischen Lagern vorkommt und keine Frage der Frömmigkeit, sondern zuallererst des Umgangs mit der Macht, mit der Rolle und der eigenen Person ist. Allerdings ist die Frage nach den theologischen Profilen von Tätern auch mit dieser Studie nicht geklärt.
Die Studie mahnt an, Aufarbeitung nicht als ein »Abschließen« von Fällen zu verstehen, sondern als Entwicklung einer Erinnerungskultur. Aus meiner Sicht gehört dazu auch, Menschen theologisch und geistlich zu befähigen, sich bei Idealen, Erwartungen und Beziehungen einen eigenen Standpunkt entwickeln zu können und ihr Handeln selbst zu entscheiden bzw. durchzusetzen. Befähigung und Emanzipation, auch die geistliche Befähigung des Allgemeinen Priestertums, widersprechen allen Abhängigkeitsverhältnissen.
Prof. Dr. Markus Schmidt lehrt Diakoniewissenschaft in Bielefeld-Bethel.
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