Meine Weihnachtsgeschichte
Weihnachten ist das Fest der Geschichten. Ob nun die biblische von Jesu Geburt, aus der unser Heiligabend wurde, Geschichten nicht christlicher Völker zur Wintersonnenwende. Die folgende ist eine ganz persönliche.Es war Ende November. Das fühlbar nasskalte und nicht gerade einfühlsame Wetter tut alles, um uns den Gedanken an den bevorstehenden Totensonntag näherzubringen. Das Telefon klingelt. Es ist Karls Nummer, die eingeblendet wird. Der Zeitpunkt ist völlig untypisch. Denn seit 13 Jahren ruft er mich eigentlich nur am 24. Dezember vormittags an.
Vor 14 Jahren im Sommer fuhr ich das erste Mal zu ihm und seiner Frau. Ich wollte ihnen erzählen, wie ihr Sohn verunglückt war. Es war damals ein warmer Freitag im Juni, der einen heißen Sommer erahnen ließ. Ich fahre am Abend aus dem Landtag in Dresden wieder zurück in die heimatlichen Berge der Oberlausitz. Gedanklich war ich noch bei einer Anfrage, ob ich bei einem Seminar »Was ist Wahrheit?« einen Vortrag halten würde. Das tat ich jetzt gerade und fuhr dabei bestimmt etwas schneller als man fahren durfte. Nicht nur telefonieren, auch denken lenkt vom Straßenverkehr ab. Aber Gottseidank lässt sich denken beim Autofahren nicht verbieten.
Also: Was ist Wahrheit? Aus den Überlegungen reißt mich ein Motorrad, das mich mit überhöhter Geschwindigkeit und einem Riesengedröhne überholt. Gut frisierter Auspuff!
Das Unglück
So ein Idiot, denke ich. Der fährt wie ich früher. Aber es muss ja nicht bei allen so gut gehen, wie bei mir. Als ich ein wenig später um die Kurve in eine herrliche Allee komme, ist er schon verschwunden. Zumindest ist er nicht zu sehen. Dann sehe ich sein verbeultes Motorrad liegen. Er musste mit einer Riesengeschwindigkeit gegen den Baum auf der Gegenseite gefahren sein.
Aber warum? Wahrscheinlich war er jemandem ausgewichen. Aber wem? Ich fahre ein Stück zurück, halte und suche ihn. Er musste mit einem Riesenbogen in das Kornfeld geschleudert worden sein. Auf einen großen Stein. Mit dem Handy informiere ich den Rettungsdienst und die Polizei und gebe an, dass ich der Ex-Innenminister sei. Das ist jetzt kein Amtsmissbrauch, sondern die Beschleunigung einer Rettungsmaßnahme.
Ich knie nieder und nehme ihn in den Arm. Obwohl sein Blut langsam unter dem Helm über sein Gesicht tropft, nehme ich ihm den Helm nicht ab. Vorahnung. Er öffnete die Augen und scheint mich fragend anzusehen. Ich erzählte ihm, dass Rettungswagen und Polizei verständigt worden seien und wenn er wolle, würde ich natürlich auch seine Eltern verständigen.
Sein Blick wird gerade zu flehentlich. Als gäbe es eine innere Kommunikation höre ich mich sagen, dass ich den Unfall genau beobachtet habe. Ich hätte gesehen, dass er versucht habe, einem Reh auszuweichen und dass es dabei zu diesem Unfall gekommen wäre.
Das würde ich auch so der Polizei und seinen Eltern erzählen. Er scheint ruhiger und entspannter zu werden nach diesen Worten und schließt dann bald darauf seine Augen. Für immer, wie mir der schon herbeigeeilte und auch bekannte Notarzt bestätigt. Also gebe ich den Polizisten jene Aussage zu Protokoll, die ich dem sterbenden Jungen gesagt hatte.
Der eine Polizist suchte noch vergeblich nach erkennbaren Fluchtspuren des Wildes im Kornfeld. Er findet keine. Also belassen sie es dann bei meiner Aussage. Weiter kam ja niemand zu Schaden. Dann weiß ich auch mehr über den jungen Mann. Er heißt Jonas, stammt aus einem Dorf in der Nähe und ist 24 Jahre alt. Älter sollte er jetzt auch nicht mehr werden.
Eine glückliche Welt zerbricht
Ich fahre dann weiter. Aber nicht nur das Ereignis, sondern auch meine eigene Reaktion haben mich verwirrt. Das akademische Thema »Was ist Wahrheit?« hat mich lebensnah eingeholt. Spät am Abend ruft mich noch der Notarzt an. Es wäre gut gewesen, dass ich den Helm nicht abgenommen hätte, das hätte ihn sonst die letzten Minuten seines Lebens gekostet.
Dann fragt er mich, ob ich die Eltern des Jungen besuchen würde. Es wäre für sie ausgesprochen wichtig, den Augenzeugen dieses Unfalls zu hören.
So fuhr ich das erste Mal zu Karl und seiner Frau. Er ist ein gestandener und zupackender Kerl, der nach der Wende zusammen mit seiner Frau einen großen Installationsbetrieb aufgebaut hatte. Im Gegensatz zu ihm wirkte seine etwas jüngere Frau sehr zerbrechlich. Besonders jetzt.
Angegriffen und verweint sehen beide aus. Ihre kleine glückliche Welt ist zerbrochen. Jonas war der einzige Sohn, der noch geboren wurde, als sie die Hoffnung auf ein gemeinsames Kind schon aufgegeben hatten. Ich schilderte ihnen meine Sichtweise des Unfalls, so wie ich sie schon den Polizisten zu Protokoll gegeben hatte. Beide fragen immer wieder nach. Als wollten sie meine Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen. Ob Jonas nicht doch zu sehr gerast sei, was er ja manchmal getan habe, war der Hintergrund der Fragestellungen.
Er sei bestimmt zu schnell gefahren, aber nicht gerast, gebe ich zur Antwort, die mir dann auch abgenommen wurde. Aber, frage ich zurück, was würde das denn an dem ganzen Geschehen ändern, wenn er gerast wäre. Die Antwort kam von Karl. Es sei jetzt alles schon ausgesprochen fürchterlich für sie. Aber noch unerträglicher wäre die Situation, wenn ihr Sohn durch den eigenen Übermut zu Tode gekommen wäre. Mit dieser Sinnlosigkeit des Todes würden sie nicht fertig werden. Schließlich hätten sie ihm das Motorrad ja auch noch zum Geburtstag geschenkt. So müssen sie jetzt beide versuchen, das Leben ohne Jonas weiterzuführen. An ihn denken würden sie ohnehin jeden Tag. An seinem Geburtstag ganz besonders.
Eine Fehlentscheidung mit Folgen
Denn Jonas war am 24. Dezember geboren – Heiligabend! Seitdem rief Karl mich jedes Jahr am 24. Dezember vormittags an. Seine einleitenden Worte waren immer der Verweis darauf, wie viele Jahre seit dem Tod seines Sohnes schon vergangen waren. Vor Jahren war seine Frau gestorben. Krebs.
Er war der Meinung, dass diese Krankheit durch ihre Trauer ausgelöst worden sei. Sie konnte und wollte sich mit dem Verlust ihres Sohnes nicht abfinden. Der einzige Trost für sie war immer, dass Jonas nicht übermütig in den Tod gerast war. Dass er nicht selbst schuld war. Das hätte sie zur Verzweiflung gebracht.
Jetzt wohnte Karl allein, war es aber nicht. Seine Brüder mit ihren Familien und sein übergroßer Freundeskreis hielten fest zu ihm. Im Frühjahr war er 70 Jahre alt geworden. So fuhr ich jetzt durch das regennasse, neblige und kalte Novemberwetter zu ihm.
Jonas wäre jetzt 37 Jahre alt, und da seine Kinder nie geboren wurden, bin ich jetzt leider kein glücklicher Großvater, waren seine Begrüßungsworte. »Deshalb fällt es auch nicht so schwer jetzt zu gehen«, setzte er hinzu. Vor Jahren hatte ihm ein Arzt empfohlen, seinen Prostatakrebs nicht durch eine Operation, sondern durch Bestrahlung heilen zu lassen. Eine verhängnisvolle Fehlentscheidung des Arztes und da er sich darauf einließ, auch seine eigne: Er wollte keine Windeln tragen und auch nicht impotent werden. Jetzt hatten sich die Metastasen in seinen Knochen und der Wirbelsäule breitgemacht. Es gab keine Chancen auf Heilung mehr, nur noch die Betäubung durch Morphium. Für ihn gab es keinen Überschuss an Lebenszeit. Das alles erzählt er nicht anklagend oder aufbegehrend, sondern sehr gelassen, wie einer, der sich in sein Schicksal ergeben hat.
Wir reden. Wir schweigen. Wir reden. Mir wird Dein Anruf am Heiligtag fehlen, sage ich, der ist doch schon Tradition. Wie Weihnachten selbst, setze ich übertreibend dazu. Er lacht. Er habe dabei immer ein schlechtes Gewissen gehabt, sagt er dann mit einem verlegenen Lächeln, denn er wisse ja auch, welch quirlendes Leben bei uns mit Kindern und Enkelkindern herrsche. Aber es sei für ihn zu wichtig gewesen, um darauf Rücksicht zu nehmen.
Ein Weihnachtswunder wird geschenkt
So wie Weihnachten für ihn auch immer wichtiger geworden war. Er sieht mich sehr ernst an. Vielleicht weißt Du’s auch nicht mehr, aber Du hast vor ein paar Jahren davon gesprochen, dass Weihnachten ein Geheimnis sei. Naja, sagte ich lächelnd, das sagen Theologen immer, wenn sie wissen, dass sie dem Text nicht gerecht werden können, oder er ihre Fähigkeiten zur Auslegung übersteigt. Jetzt lacht er. Aber, sagt er dann sehr nachdenklich, es gibt wirklich ein Geheimnis und ich bin dahinter gekommen. Na, da bin ich aber gespannt, werfe ich belustigend ein. Er nimmt es mir nicht übel. Nimm’s ruhig ernst, meint er und spricht dann weiter.
Als ich ein Kind war, mochte ich die drei heiligen Könige. Immerhin brachten sie Geschenke und ihre Kamele und Pferde beflügelten meine Fantasie. Dann kamen die Gespräche der Großmutter von der Flucht vor den Russen dazu und wie glücklich sie waren, in der Wärme eines Stalls zu übernachten und von der Bauersfrau auch noch Brot zu bekommen. Das brachte mir das Schicksal der Heiligen Familie näher. Als wären wir verwandt.
Später ging ich dann nicht so gerne in den Weihnachtsgottesdienst, weil es die Geschenke immer erst hinterher gab. Da hatten es die »Heiden-Kinder« besser. Als wir dann verheiratet waren, rührte uns die Geburt Jesu, weil wir selbst noch keine Kinder bekamen und uns doch so sehr welche wünschten. Wenn wir »Ihr Kinderlein kommet« sangen, schauten wir uns halb ironisch und ganz hoffnungsvoll an. Dann wurde Jonas am Heiligabend geboren gegen 19 Uhr. Meine Frau sagte, heute müssen wir nicht in den Gottesdienst, heute haben wir das Weihnachtswunder zu Hause. Jonas war unser Geschenk.
Bei den nächsten Weihnachtsfesten verstärken sich unsere Ahnungen und Ängste vor den Gefährdungen, denen jedes neugeborene Kind ausgeliefert ist. Ein Leben zwischen der freudigen Geburt im Stall und dem Kreuz im Hintergrund. Immer diese uneingestandene Angst, dass dem eigenen Kind nur nichts passiert.
Das Weihnachtsgeheimnis
In dem Jahr, als Jonas gestorben war, hatten wir Angst, in den Weihnachtsgottesdienst zu gehen. Aber unsere Familien und unsere Freunde haben eine schützende Hülle um uns errichtet. Seit diesem Weihnachtsgottesdienst, erreichten uns, wie gefiltert, immer nur die Worte des Trostes und der Hoffnung und die Sehnsucht nach Frieden. Jedes Jahr hörten wir etwas anderes, obwohl die Weihnachtsgeschichte gleich bleibt. Das ist nämlich ihr Geheimnis. Er machte eine Pause. Dann spricht er weiter. Es ist wie mit der Zeit. Nicht die Zeit vergeht, sondern wir vergehen. Die Weihnachtsgeschichte bleibt immer gleich. Aber abhängig von unserem Lebensalter und unserer Lebenserfahrung erschließen sich uns immer wieder neue Aspekte der Betrachtung. Vielleicht ist das ihr Geheimnis, dass sie uns bei allem, was uns im Leben passieren kann, Mensch sein lässt. Er lacht und fragt, ob er jetzt ein Theologe sei. Ein Diplom-Theologe, sag ich ganz ernsthaft. Und füge weniger ernsthaft hinzu, dass Jesus im Gegensatz zu ihm nur ein einfacher Theologe gewesen sei.
Wir lachen. Welche Figuren aus der Weihnachtsgeschichte sind Dir denn dieses Jahr ganz besonders nahe, frage ich. Er überlegt nicht lange. Das liegt doch auf der Hand und an meiner Situation, sagt er dann, natürlich die Engel. Weil ihre Botschaft über Frieden und Hoffnung jetzt auf mich zugeschneidert ist. Er macht eine Pause.
Vielleicht ist es auch nicht so, sagt er dann, aber es wäre mir ganz lieb, wenn es so wäre. Kein Ende, sondern ein Übergang. Dann fragt er mich unvermittelt, ob es denn damals die Wahrheit gewesen wäre, als ich über den Unfall seines Sohnes sprach. Ausweichend frage ich zurück, wie er darauf komme? Er will es nicht begründen, ich solle ruhig darauf antworten. Die Antwort würde nichts verändern. Willst Du die Tatsachen hören oder die Wahrheit?, frage ich ihn. Er besteht auf der Wahrheit.
Es war die Wahrheit, sage ich ganz bestimmt. Denn die Wahrheit hat mit Weihnachten gemein, dass man damit menschlich weiterleben kann. Wir schweigen beide. Dann sagt er, dass er es genauso vermutet habe. Wir umarmen uns.
Heute am Heiligabend hat er nicht angerufen. Er wird nie wieder anrufen. Die Engel, die schon seit Jahrhunderten ein wenig neckisch auf dem Altar in unserer Bergkirche hocken und ihren Friedensgruß in die Welt posaunen, werden mich sehr an ihn erinnern.
Alle Jahre wieder.
Heinz Eggert, Jahrgang 1946, ist Pfarrer i. R. und sächsischer Innenminister a. D. Er lebt in Oybin im Zittauer Gebirge.
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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