Gerettet in Moritzburg
Solidarität: Tatjana und Serhej Kriwoschejew flohen mit ihren sieben Kindern aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine. Jetzt sind sie im Moritzburger Diakonenhaus untergekommen. Die Geschichte einer Rettung.Darauf waren sie nicht gefasst. 36 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine hatte eine Gruppe der Kirchgemeinde Gruna-Seidnitz am 13. März mit zwei Bussen von der polnischen Ostgrenze nach Dresden gebracht. Dort versuchten sie, diese privat unterzubringen. Doch unter den Geflüchteten befand sich eine neunköpfige Familie. »Ich bekam die Anfrage, ob sie die zu uns bringen könnten«, erzählt Steve Müller (32), Gemeindepädagoge und seit 1. März neuer Leiter des Moritzburger Brüderhauses. »Wir haben spontan entschieden, sie im Rektor-Rühle-Haus unterzubringen.« Die erste Etage habe leer gestanden, weil sie renoviert werden sollte. »Das haben wir jetzt aufgeschoben.«
Wo vorher Studentinnen und Studenten in eigenen Zimmern lebten und sich eine Küche teilten, sind nun Tatjana, 37, und Serhej Kriwoschejew, 43, mit ihren sieben Kindern eingezogen. Sie stammen aus Biloritschyzja, einem 900-Einwohner-Dorf in der Region Tschernihiv im Norden der Ukraine. Dort fielen Putins Truppen von Belarus und Russland aus ins Land ein.
Viktoria, die älteste, ist 16, Jaroslav, der jüngste, im rosa Kinderstühlchen, ist sieben Monate alt. Obwohl sie selber auf Hilfe angewiesen sind, servieren sie den Gästen Tee, Süßigkeiten und Kiewski-Torte.
»Am Morgen des 11. März hörten wir Schüsse«, erzählt Tatjana. »Übers Feld kamen Panzer.« »Und zwei Düsenjäger donnerten im Tiefflug über das Dorf«, fügt der 15-jährige Sohn Serhej hinzu. In Windeseile packten sie ein paar Sachen zusammen. »Etwa 30 Kilometer sind wir zu Fuß gegangen«, sagt Tatjana. In Mala Diwyzja erwischten sie einen Zug nach Pryluky. »Der fuhr ohne Beleuchtung, damit die Russen ihn nicht beschießen«, berichtet Vater Serhej. »Wir haben es geschafft, Gott sei Dank«, sagt er und schlägt ein Kreuz.
Über Lviv gelangten sie bis an die polnische Grenze. Nur wegen der sieben Kinder durfte auch er als Mann das Land verlassen. »Dort haben wir vier Stunden in einem Einkaufszentrum geschlafen«, sagt Serhej. 7 Uhr morgens hätten sie die zwei Busse nach Dresden gebracht.
In einem Raum ihrer neuen Bleibe in Moritzburg stehen Couch und Polstersessel. Auf dem Fensterbrett haben die Jüngsten Spielzeugautos und Kuscheltiere aufgereiht. Die elfjährige Angelina zieht ein Puzzle aus einer der Plastiktüten, breitet die Teile auf dem Boden aus und beginnt sie zusammenzufügen.
Gearbeitet hat Serhej als Gärtner im Dienst der Gebietsverwaltung. Er zeigt ein Foto: Er mit dem Sohn auf einem der Felder mit Walderdbeeren. Mit denen hat er experimentiert. »Ich habe sie zu einem 1,20 hohen Weihnachtsbaum gezogen«, sagt er und zeigt den Preis, den er dafür auf einer Ausstellung bekommen hat. Und alte Dinge hat er gesammelt: bestickte Tücher, Hemden, Zeugnisse historischer Folklore. »Regionalgeschichte hat mich interessiert«, sagt er und ergänzt: »Ich bin Patriot.« Ikonen habe er in der Wohnung aufgestellt. Er sei ein gläubiger Mensch. Ein paar alte Schwarz-Weiß-Fotos und Ansichtskarten hat er vor der Flucht noch schnell einstecken können. Nicht viele. Aber zwei schenkt er dem Reporter. Er wischt mit dem Daumen über das Smartphone, lässt die Fotos nach oben sausen, öffnet eins ums andere. Abbilder eines anderen Lebens, nun Vergangenheit. »Wie es bei uns zu Hause aussieht, wissen wir nicht«, sagt Tatjana. Sie hören nur die wenigen Nachrichten von eingeschlossenen Städten, Fluchtkorridoren, Flüchtlingstrecks, die beschossen werden. »Eltern haben wir nicht mehr. Vielleicht steht jetzt nicht einmal unser Haus noch. Wir haben alles verloren«, sagt Tatjana. »Das wird eine andere Ukraine sein. Ich sehe keine Chance, je wieder zurückzukehren.«
Nun müssen sie in Moritzburg zum Fotografen, Passbilder anfertigen lassen. In ein paar Tagen aufs Landratsamt nach Meißen. Zwei Mal in der Woche lernen sie und die fünf größeren Kinder Deutsch bei einem pensionierten Lehrer aus Bärnsdorf. Serhej würde gern wieder als Gärtner arbeiten. Tatjana, wenn die Kinder größer sind, als Köchin. »Jetzt müssen die Kinder sich erst einmal von diesem Stress erholen«, sagt sie.
Eine Gruppe von etwa 15 Ehrenamtlichen aus Moritzburg und Umgebung kümmere sich um die Familie, berichtet Steve Müller. »Eine Stunde, bevor sie eintraf, kamen sie mit Autos vollgepackt mit Hygieneartikeln, Kleidung, Spielsachen, Essen. Das hatten sie bei Freunden gesammelt.« Die Unterkunft sei vorläufig, sagt Steve Müller. »Wir suchen nach einer dauerhaften Lösung.« Bis dahin könnten sie hier bleiben, ohne Druck. Ziel sei, dass sie selbständig leben. Jetzt aber seien die Leute aus der Gruppe, die einander abwechseln, um mit ihnen auf Ämter zu gehen oder auf die Kinder aufzupassen, ganz wichtig. »Auch wenn sie nur wenig miteinander reden können, die Familie freut sich über jede Begegnung. Das Team gibt ihnen Sicherheit.«
Wer Geflüchtete unterbringt, möge verantwortungsvoll die eigenen Ressourcen bedenken, sagt Sigrid Winkler-Schwarz, Sprecherin der Diakonie Sachsen. »Es ist mehr als nur ein Schlafplatz. Und es kann für lange sein.« Auch auf schlimme Situationen müsse man sich gefasst machen. »Bekannte von mir haben Mütter aufgenommen. Nun haben sie erfahren, dass deren Männer gefallen sind.«
Informationen zur Flüchtlingshilfe mit Ansprechpartnern in den Kirchenbezirken auf der Internetseite www.diakonie-sachsen.de => Über uns => Ukraine Hilfe; sowie bei der Landeskirche unter www.evlks.de => EVLKS-interessiert => Aktuelles => Friedensgebete und Hilfsangebote in Sachsen => Spende & Hilfe
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