Mission Wendekind
Dritte Generation Ost: Diejenigen, die die Wende als Kinder und Jugendliche erlebten, haben heute etwas Entscheidendes einzubringen: Die Fähigkeit, mit notwendigem Wandel umzugehen und diesen zu gestalten. Der »östliche Blick« wird gebraucht.Als die Friedliche Revolution 1989/90 Deutschland veränderte, waren sie zwischen 5 und 15 Jahre alt: Die sogenannten Wendekinder. Sie haben besondere Erfahrungen gemacht und einen besonderen Blick auf die Entwicklungen des wiedervereinigten Deutschlands. Um sich sichtbarer zu machen und den persönlichen wie beruflichen Erfolg zu stärken, haben sich einige von ihnen zum »Netzwerk Dritte Generation Ostdeutschland« zusammengeschlossen. Gemeinsam möchten sie ihre »Wandlungserprobtheit« fruchtbar machen, um den Wandel hin zu einer gerechten und lebenswerten Zukunft zu gestalten.
Gerade die Generation der zwischen 1975 und 1985 noch in der DDR Geborenen habe durch die Wende in ihren entscheidenden Entwicklungsjahren Kompetenzen erworben, die ihnen ermöglicht, Wandlungsprozesse zu bewältigen, so das Netzwerk. Der Überbegriff hierfür heißt: Transformationskompetenz. Diese möchte das vor zehn Jahren gegründete Netzwerk »entdecken, beschreiben und aktiv fördern«, wie es auf der Internetseite heißt. Denn diese Kompetenz werde heute mehr denn je in der Gesellschaft gebraucht, sei es bei der Digitalisierung oder der Bewältigung des Klimawandels.
Dem Netzwerk geht es dabei darum, eine größere Beteiligung Ostdeutscher an Verantwortungspositionen zu erreichen und sie zu befähigen, ihre Schätze für die Gesellschaft nutzbar zu machen.
Am 18./19. September sind einige der Netzwerker zu einem »Generationsgipfel der Wendekinder« in der Handelshochschule Leipzig (HHL) zusammengekommen. Coronabedingt konnten dabei allerdings statt der ursprünglich geplanten 150 bis 200 Teilnehmer nur 17 Männer und Frauen an der Handelshochschule in Leipzig zusammenkommen.
Eine von ihnen ist Katharina Göring. Sie ist seit 2019 im Netzwerk aktiv und hat das diesjährige Treffen moderiert und mit organisiert. Die 42-jährige systemische Organisations- und Unternehmensberaterin wurde in ein DDR-Pfarrhaus hineingeboren: Der Vater war Pfarrer in Thüringen, die Mutter Theologin. »Mein Elternhaus und der christliche Glaube haben mein Menschenbild sehr geprägt«, sagt sie.
In ihrer Familie war es schon zu DDR-Zeiten selbstverständlich, sich auch vom Glauben ausgehend politisch zu engagieren, sagt sie. »Fairness ist mir sehr wichtig, und dass Menschen auf Augenhöhe miteinander agieren, dass man sich gegenseitig inspiriert, und nicht versucht, den anderen zu dominieren, sondern Gemeinschaft schafft und aus dieser heraus agiert.« Dieses Führungsverständnis versucht sie nun auch in Organisationen zu vermitteln. »Denn der Führungsstil wirkt über die Arbeit hinaus – auch in die Familien von Mitarbeitern hinein. Ich habe öfter gesehen, wie durch schlechte Führung viel kaputt gemacht wurde. Das ist furchtbar.« Aber ein guter, gemeinschaftsorientierter Führungsstil lässt sich ihrer Meinung nach lernen, auch – oder vielleicht gerade – von Ossis.
Doch oft ist es ein langer Weg für Ostdeutsche, in Führungspositionen zu gelangen. Die nackten Zahlen sprechen Bände: 17 Prozent der Deutschen stammen aus dem Osten, aber nur 1,7 Prozent der Führungskräfte sind Ostdeutsche. In Bundesministerien zum Beispiel kommen drei von 120 Abteilungsleitern aus den östlichen Bundesländern. Das zeigte eine Untersuchung der Universität Jena aus dem Jahr 2017.
Auf diese Schwierigkeit ging Timo Meynhardt bei dem Treffen in Leipzig ein. Er ist Professor für Wirtschaftspsychologie und Führung an der HHL Leipzig – und dort der einzige ostdeutsche Lehrstuhlinhaber. Ein Hindernis vieler qualifizierter Ostdeutscher in Bewerbungsverfahren in den vergangenen Jahrzehnten sei, dass viele Personalchefs, die selbst aus Westdeutschland kommen, Probleme haben, ostdeutsche Biografien zu lesen, erläutert Meynhardt. Dass sie sich also schwer damit tun, die Stärken in den Lebensläufen ostdeutscher Bewerber zu erkennen. »Die Andersartigkeit der Lebensläufe macht es für alle Seiten schwerer. Im schlimmsten Fall bewerben sich qualifizierte Menschen aus dem Osten auf bestimmte Stellen gar nicht mehr.«
Dieses Phänomen wird nun an der Handelshochschule erforscht, die über den Lehrstuhl von Meynhardt ein offizieller Partner des Netzwerks geworden ist – und dieses Jahr auch Gastgeber des Treffens. Was dieser »östliche Blick« sei und wofür er nötig wäre, erklärt Meynhardt so: »An erster Stelle steht für mich im Moment die Einsicht, dass vieles im Leben nicht planbar ist und man sich vor uneinlösbaren Versprechungen hüten sollte.« Meynhardt selbst münzt seine Erfahrungen und seinen »östlichen Blick« um in konkrete Methoden. So hat er das Leipziger Führungsmodell mit entwickelt, das Unternehmergeist, Verantwortung und Effektivität miteinander verbindet und eine gemeinwohlorientierte Gestaltung der Gesellschaft befördern möchte.
In der Führung angekommen ist das »Wendekind« Kerstin Kinszorra, die ebenfalls im »Netzwerk Dritte Generation Ostdeutschland« aktiv ist und in Leipzig dabei war. Sie ist Pressesprecherin der Landeshauptstadt Magdeburg und Leiterin des Teams Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Büro des Oberbürgermeisters – und nicht zuletzt: evangelische Christin. Ihre ersten Erfahrungen mit Leitung hat sie in ihrer Kirchgemeinde in Tangerhütte gesammelt, wo sie aufgewachsen ist. »Auch wenn ich eher zufällig in die Gemeinde gekommen bin, war es in den frühen 1990er Jahren doch ein aktiver Schritt, zu einer christlichen Kirche zu gehören. Mir hat das sehr schnell sehr viel gegeben, die Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, unsere Gespräche und die Themen, mit denen wir uns beschäftigten: Hilfsprojekte, Eine-Welt-Themen, Gerechtigkeit«, berichtet Kinszorra.
Als sie später vom Studium in Leipzig nach Tangerhütte zurückgekehrt ist, war es der Gemeindepfarrer, der sie mit einer aktiven Beteiligung betraut habe. »Er war derjenige, der mir größere Dinge zugetraut hat. Er hat gesagt: »Probiere Dich aus«. So war ich etwa in der Vorbereitungsgruppe für modern gestaltete Gottesdienste aktiv«, so Kinszorra. Dort habe sie vieles ausprobieren können – immer mit Rückendeckung des Pfarrers und des Gemeindekirchenrats. In diesen hat sie sich dann später auch wählen lassen. Inzwischen ist ihr Pfarrer Matthias Heinrich Superintendent vom Kirchenkreis Salzwedel. Über ihn sagt sie heute: »Er hat offensichtlich schon damals eine Kompetenz in mir gesehen, als ich selber noch gar nicht so weit war.«
Dieser Artikel erschien im DER SONNTAG, Nr. 40 | 4.10.2020. Möchten Sie mehr lesen? Alle Sonntagsthemen finden Sie bequem in unserem Abo. Ob gedruckt oder digital – Verpassen Sie keinen Artikel mehr. Bestellen Sie jetzt unter: https://www.sonntag-sachsen.de/aboservice
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