Allein im Tunnel
Mehr als jeder zehnte ältere Mensch leidet an Depressionen. Die Betroffenen selbst und ihr Umfeld sehen das oft als Makel oder gar Sünde. Dabei gibt es Hilfe – in der Medizin und im Glauben.Ich kann einfach nicht mehr« oder »Ich sitze wie in einem tiefen dunklen Tal« – solche Sätze hört der Seelsorger Stefan Müller mitunter in Zwickauer Pflegeheimen. Manche seiner betagten Gesprächspartner haben gerade ihre vertraute Wohnung verlassen müssen, manche einen lieben Menschen. Pfarrer Stefan Müller von der Projektstelle Altenseelsorge der Landeskirche hört dann einfach zu.
Er weiß: »Gut gemeinte Ratschläge bewirken nur, dass sich der Betroffene noch schlechter fühlt, denn er kann ja eben nicht.« Er weiß auch: »Depression ist eine Krankheit, die behandelt werden kann und heilbar ist.« Eine Krankheit als Tabu allerdings – gerade bei alten Menschen. Dabei leiden neun Prozent der älteren Menschen an einer ausgeprägten Depression, so die Berliner Altersstudie. In Heimen seien dies gar über 26 Prozent. Weitere 18 Prozent der Senioren zeigten weniger schwere Formen der Krankheit.
Auslöser sind oft schwere körperliche Erkrankungen, Einsamkeit, der Verlust von Partnern, Beruf, des eigenen Zuhauses oder von Freiheit. Die mit Abstand größte Gruppe jener über 600 Sachsen pro Jahr, die sich selbst töten, sind Männer über 75 Jahre – häufig allein lebend oder gerade in ein Heim gekommen. Hinzu kommt eine hohe Dunkelziffer von alten Menschen, die Essen oder die Einnahme von Medikamenten verweigern.
Depressionen im Alter tarnen sich gut. Oft wirken sie wie eine Demenz: Patienten haben Sprech- und Denkhemmungen, können sich nur schwer konzentrieren oder erinnern. Oft betonen depressive Menschen ihre Defizite und antworten auf Fragen »Ich weiß nicht«. Patienten mit einer wirklichen Altersdemenz dagegen versuchen, ihre Defizite zu verbergen.
»Es ist eine Generation, die nur schwer annehmen kann, dass es sich um eine psychische Belastung handelt«, sagt die Seelsorgerin Anne Strassberger über ihre Erfahrungen in Pflegeheimen der Stadtmission Chemnitz. »Die ältere Generation ist so erzogen, dass sie keine Schwäche kennt.« Das Tabu der Betroffenen trifft auf die Unsicherheit und Unwissenheit ihres Umfelds. Auch in Kirchgemeinden ist das nicht anders. Zu oft noch gelten seelische Krankheiten als Makel.
»Es ist noch nicht im Denken aller Seelsorger angekommen, dass es notwendig ist, mit Psychologen zusammenzuarbeiten«, sagt die Chemnitzer Pfarrerin Anne Strassberger. »Ich muss als Theologin meine Grenzen anerkennen.« Auch in ihrer Arbeit in der Diakonie fehlen noch Anknüpfungspunkte zu Therapeuten und Ärzten, an die sie alte Menschen mit Depressionen verweisen könnte. Einen Termin bei Psychologen oder Psychiatern zu finden, ist in Sachsen meist ein monatelanger Weg. Schuldgefühle, Wut, Aggression – auch das erlebt Anne Strassberger bei depressiven Menschen in den Pflegeheimen. Dem begegnet die Pfarrerin mit dem Zuspruch des Evangeliums: »Sie dürfen so sein, wie Sie sind. Mit allem, was da ist an Schmerz und Hilflosigkeit.« Sie weiß, dass schon der Beter des biblischen Psalms 23 das finstere Tal kannte, durch das ihn der Herr als Hirte führt – aber es bleibt finster, eine Zeit lang zumindest. Billigen Trost kann es da nicht geben.
In seinen Seniorenkreisen hat der Zwickauer Seelsorger Stefan Müller erfahren, wie gut es auch depressiven Menschen tun kann, einfach über ihre Situation zu erzählen. »Verständnis und Geduld sind in der Begleitung von an Depression Erkrankten vielleicht das Wichtigste.« Dann muss er an die biblische Geschichte des Propheten Elia denken, der in die Wüste floh und wünschte zu sterben.
Elia sprach: »Es ist genug.« Als sein Leben schon zu dämmern begann, kam ein Engel Gottes und gab ihm zu essen und zu trinken. Mehrmals, mit Geduld. Elia fand zurück ins Leben.
Fast 20 Jahre pflegte sie ihre Mutter – es raubte ihr Kraft und Lebensmut. Sie wurde depressiv. Am Ende wollte sie nicht mehr essen. In einer Klinik lernte sie, das Leben neu zu genießen. Das Portrait einer Betroffenen lesen Sie hier im SONNTAG-Digital-Abo.
Warum es so schwer ist, über Depressionen im Alter zu sprechen und warum man es dennoch tun sollte – das Interview mit dem Chefarzt der Median-Klinik Berggießhübel, Matthias Israel, lesen Sie hier im SONNTAG-Digital-Abo.
Impressionen vom Elbe-Tauffest
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