Was Sie in Ihrem Artikel unter der Überschrieft "Unfriedliche Revolution" am Wochenende über Leipzig am 2.Oktober 1989 behaupten ist mehrfach grob falsch: "Schon am 2. Oktober flogen in Leipzig nach einem Friedensgebet Pflastersteine aus den Reihen von tausenden Demonstranten auf Polizisten, wurden Scheiben zerschlagen, brannten Autos. Die Sicherheitskräfte schlugen mit Knüppeln und Wasserwerfern zurück." In Leipzig flogen 1989 keine Steine, gingen keine Scheiben zu Bruch und brannten keine Autos. Für solche Behauptungen gibt es weder Belege, weder Fotos noch Zeitzeugen. Sie können außerdem sicher sein, die DDR-Staatsmacht hätte höchst gern darüber berichtet. Hat sie aber nicht. Richtig ist, dass in Leipzig alles von Seiten der Demonstranten friedlich blieb, nicht so von der Staatsmacht. Am besagten 2.Oktober wurden am Ende der Montagsdemonstration (mit 20 000 Teilnehmern war es die 5. Montagsdemonstration in Folge) auf dem Thomaskirchhof hunderte friedliche Demonstranten grundlos zusammengeschlagen. Die Sicherheitskräfte schlugen nicht zurück, wie Herr Roth behauptet, sondern drauf los. Für den 9. Oktober wurde dann zu schießen angekündigt. 70 000 kamen dennoch.
Die geschilderte Szenerie in Dresden hatte völlig andere Hintergründe. Die Leipziger auf dem Ring riefen "Wir bleiben hier!" Die Dresdner am Hauptbahnhof Anfang Oktober riefen: "Wir wollen raus!"
Ich bitte Sie ausdrücklich darum, die Fakten richtig zu stellen. In einem Kirchenblatt ist die Verfälschung von Tatsachen besonders bedrückend. Dass Sie die Friedfertigkeit der Montagsdemonstrationen von 1989 als "Mythos [...] aus Siegerperspektive." verächtlich machen, ist - neben den falschen Tatsachenbehauptungen - für eine evangelische Wochenzeitung skandalös.
Reinhard Bohse, Markkleeberg/Leipzig
Die unfriedliche Revolution
Protest: Am Anfang des Revolutionsherbstes standen nicht Kerzen und Gebete – es flogen Steine. Befeuert von Gefühlen, die auch heute auf die Straßen drängen.Da war der Deutschlandfunk-Moderator für einen Moment irritiert. Er hatte einen echten Pegida-Sympathisanten am Live-Telefon, der bei Montagsdemonstrationen mitlief und »Wir sind das Volk« rief. Da werde doch das Erbe der friedlichen Revolutionäre von 1989 missbraucht, sagte der Radiomann. »Wieso?«, erwiderte der Sachse. Er sei doch selbst einer von damals. Und gerade deshalb heute wieder unterwegs.
Plötzlich war einen Spalt breit der Blick frei auf die Rückseite des strahlenden Bildes von der Friedlichen Revolution. Die andere, gern verschwiegene Seite dieses auch von der Kirche aufgebauten Mythos. Es waren nicht nur Kerzen und Gebete damals. Es war auch Wut. »Hier sah es Anfang Oktober 1989 nicht aus wie auf einem Kirchentag, sondern wie in Kreuzberg am ersten Mai«, erinnert sich der Schriftsteller Peter Richter im Angesicht der Pegida-Demonstrationen an die revolutionären Tage in Dresden. Er sieht einen Zusammenhang. Auch damals glommen Gefühle, die sich entluden.
Zorn, Verzweiflung. Das Gefühl, nicht gehört zu werden von den Mächtigen. Nicht mitbestimmen zu können. Schon am 2. Oktober flogen in Leipzig nach einem Friedensgebet Pflastersteine aus den Reihen von tausenden Demonstranten auf Polizisten, wurden Scheiben zerschlagen, brannten Autos. Die Sicherheitskräfte schlugen mit Knüppeln und Wasserwerfern zurück.
Unklar ist, wer am Dresdner Hauptbahnhof den ersten Stein warf – Zeugen berichten auch von Provokateuren der Stasi. Sicher aber ist, dass nach dem 3. Oktober aus der bald mehrere Tausend zählenden Menge Pflastersteine und Flaschen auf die Polizeiketten flogen. Ausreisewillige hatten sich hier ursprünglich versammelt, um auf die Züge mit den Prager Botschaftsflüchtlingen nach Westdeutschland aufzuspringen.
»Ihr Schweine, lasst uns raus«, riefen junge Männer den aufmarschierenden Polizisten zu. Die räumten mit Knüppeln den Bahnhof und verhafteten brutal hunderte friedliche Protestierer und Zaungäste. In den Tagen darauf eskalierte die Lage. Prügelnde Polizisten hier, kleine Gruppen von Neonazis und Hooligans da. Ein in Flammen stehender Streifenwagen. 106 verletzte Polizisten und 46 verwundete Demonstranten zählten staatliche Stellen.
Eine protestantische Revolution, wie es nach 1990 oft hieß? »Die Kirchen waren keineswegs der Motor der Revolution«, sagt der Historiker Clemens Vollnhals, stellvertretender Direktor des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts. »Der enorme Ausreisewille so vieler Menschen mit der Wut und dem Mut der Verzweifelten war die eigentliche Sprengkraft – und das unverhältnismäßige Reagieren des Staates darauf.«
Bischöfe, Christen sowie Basisgruppen versuchten wenigstens ein Blutbad zu verhindern. Schon bei den ersten Steinwürfen in Leipzig riefen sie »Keine Gewalt«. Der Dresdner Superintendent Christof Ziemer fuhr noch in der ersten Nacht in den Dresdner Hauptbahnhof und predigte kurz danach: »Lasst uns der Versuchung zur Gewalt widerstehen.« Als in Plauen am 7. Oktober Wasserwerfer in die Menge von 10 000 Demonstranten fuhren und Steine auf Polizeiautos flogen, ergriff Superintendent Thomas Küttler das Wort für einen friedlichen Ausgang.
Er gelang, wie ein Wunder. Das SED-Regime fiel in sich zusammen. Und kurz darauf, noch im Herbst `89, wurden linke Demonstranten von Deutschlandfahnen-Trägern gejagt.
Der Mythos von der Friedlichen Revolution ist eine Geschichte aus Siegerperspektive. Er verdeckt, wie knapp die Sache war. Dass es nicht immer friedlich ausgehen muss. Und dass auch heute Wut und Verzweiflung schwelen bei jenen, die sich unterlegen fühlen.
1989 kriminalisieren und diskreditieren?
Vielen Dank und besonderen Dank dafür, dass Sie Ihre Quellen nunmehr selbst auch kritisch sehen: Herr Richter als Autor, der mit dem MfS zusammengearbeitet hat (also dem MfS nahe stand) und das DDR-Ministerium des Inneren. Na, wunderbar ...
Beide Institutionen - und nicht nur sie - wollten 1989 von Anfang an die Montagsdemonstranten kriminalisieren und diskreditieren. Diese Institutionen handelten rein politisch motiviert und nicht etwa auf der Grundlage von Gesetz und Ordnung, wie Westdeutsche vermuten könnten.
Aus all den Gründen müssen die damaligen DDR-Quellen höchst kritisch angefasst werden. Dass das Michael Richter (von dem die Quelle MdI stammt) als Autor nicht getan hat, zeigt wes Geistes Kind er ist. Wissen Sie, was das MdI war? Wenn es denen in den Sinn kam, steckten sie Leute ohne Gerichtsurteil für Jahre in den Knast ... Der eigenen Propaganda zu glauben und Quellen zu fälschen, wäre daran gemessen für das MdI eine leichte Kür gewesen.
Grundsätzlich aber gilt noch heute für die gesamte DDR die Einschätzung der Unabhängigen Untersuchungskommission Dresden von 1990. Sie stellte fest, dass "die Demonstrationen an Energie zunahmen, jedoch an Gewaltlosigkeit stabil blieben. Darin bestand der Irrtum der [DDR-]Regierenden und aller Staats- und Sicherheitsorgane, dass sie der Meinung waren, diesem Begehren mit herkömmlichen Zwangs- und Abschreckungsmitteln entgegentreten zu können. ... Alle Gewaltanwendungen und alle Zuführungen verfehlten ihre Wirkung."
In der Tat: Bis drei Tage vor dem Mauerfall gab es in Leipzig 10 Montagsdemonstrationen, ab 16.Oktober jeweils mit weit über 100 000 Teilnehmern bis zur 10., die am 6. November war mit über 500 000 die absolut größte Montagsdemonstration ... und alles gewaltfrei. Doch nicht nur in Leipzig, sondern überall in der DDR gingen 1989 Zehntausende auf die Straße.
Ist das kein Argument für eine "Friedliche Revolution"?
Warum also suchen Sie nach "weiterführenden Material"? Um die DDR-Propaganda von "den Rowdys auf der Straße" nicht doch noch irgendwie bestätigt zu finden? Warum wollen Sie - wie die damaligen Sicherheitsorgane - noch heute die Montagsdemonstranten kriminalisieren und diskreditieren?
Das erschließt sich mir nicht? Wem sind Sie, lieber Herr Roth, auf den Leim gegangen?
Wir waren keine Rowdys. Die Gewaltfreiheit war unser Erfolgsrezept. (Wir hatten auch grässliche Angst, doch die Verzweiflung über die DDR war größer).
Nun zum 2.Oktober und der 5. Montagsdemonstration. Es war keine weitere Demonstration, sondern die Demonstration löste sich auf. Leider, muss ich aus heutiger Sicht sagen, war ich nicht bis zum Thomaskirchhof mit dabei. Mir schien der Tag gut gelaufen zu sein ... nachdem die erste Polizei-Sperrung Höhe Reformierte Kirche umgangen bzw. friedlich aufgedrückt wurde. Die Bereitschaftspolizei musste klein beigeben. Wir waren einfach zu viele ... 20 000 !
Ja, es gibt Zeitzeugen für die brutale Auflösung am 2. Oktober an der Thomaskirche. Ich selbst sprach mit einigen von ihnen. Auch Gemeindemitglieder der Thomaskirche werden die Gewalt von Seiten des DDR-Staates gut in Erinnerung haben. Sie sorgten nämlich dafür, dass am darauf folgenden Montag die Thomaskirche mit einem "Roten Kreuz" gekennzeichnet wurde ... als Schutzort für Demonstranten.
Ja, es gibt auch interessante Quellen, so Generalmajor Gerhard Straßenburg, Chef der BDVP und verantwortlich für Leipzig 1989 sagte zum 2.Oktober: "Eine erneute Sperrung [durch die Polizei] in Höhe der Thomaskirche wurde zum Anlass genommen, der jetzt ca. 2000 Personen starke und konzentrierte Menschenmenge den weiteren Weg zu versperren und aufzulösen". Dass die Demonstranten als "aggressiv" und "aufgeputscht" von der Bereitschaftspolizei bezeichnet wurden, muss nicht verwundern, denn sie brauchten ja eine Erklärung, warum sie erst jetzt zuschlugen.
Ansonsten keinerlei Hinweise auf das, was Sie in Ihrem Beitrag am Wochenende geschrieben und behauptet haben: fliegende Pflastersteine, brennende Autos und zerschlagene Scheiben. Nichts von alle dem. Meinen Sie im Ernst, wenn es so gewesen wäre, das hätten sich die DDR-Propagandisten entgehen lassen?
Allerdings eindeutig ist der Hinweis, wer zugeschlagen hat ... Straßenburg: "Der demonstrative Einsatz einer Kompanie mit Sonderausrüstung zeigte sofortige Wirkung."
Also noch einmal, das, was Sie schilderten, gab es 1989 in Leipzig nicht. Heute gibt es leider so etwas ab und zu auch in Leipzig ... von linksextremen jungen Leuten veranstaltet.
Reinhard Bohse, Markkleeberg/ Leipzig
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