»Einen Schuldigen auszumachen, ist entlastend«
Der Weltanschauungsbeauftragte der sächsischen Landeskirche, Harald Lamprecht, im Gespräch über Verschwörungstheorien und KirchgemeindenHerr Dr. Lamprecht, derzeit formiert sich vielerorts Protest gegen die Einschränkungen während der Corona-Pandemie, auch kursieren Verschwörungstheorien. Kann man da zwischen seriöser Kritik und unseriösen Verschwörungstheorien klar unterscheiden?
H. Lamprecht: Eine solche Unterscheidung ist nicht nur möglich, sondern zwingend nötig. Kritik am Regierungshandeln ist in einer Demokratie legitim und darf auch öffentlich geäußert werden. In einer Situation wie der jetzigen, wo alles neu ist und keine Erfahrungswerte existieren, kann es unterschiedliche Einschätzungen geben, die auch offen diskutiert werden müssen. Man darf meinen, dass bestimmte Maßnahmen viel zu locker oder viel zu straff sind. Nur im offenen Meinungsaustausch lässt sich die für alle beste Lösung entwickeln.
Und wo verläuft die Grenze zu unseriöser Kritik?
Von dieser legitimen Kritik ist die Behauptung einer Verschwörung zu unterscheiden, die den Regierenden unterstellt, sie würden in bösartiger Weise eigentlich ganz andere Absichten verfolgen, die sie vor der Bevölkerung geheim halten. Die Beschränkungen des öffentlichen Lebens seien dann keine Mittel zum Infektionsschutz, sondern unter anderem Versuche, Freiheitsrechte dauerhaft abzuschaffen oder Überwachungsmaßnahmen zu installieren. Wenn dann noch die Gefährlichkeit des Virus grundsätzlich bestritten und die Berichte über die Zustände in Italien, Spanien, Frankreich und den USA pauschal als Fälschungen bezeichnet werden, ist die Basis für eine vernünftige Verständigung verlassen.
Der Leipziger Religionssoziologe Gert Pickel sieht zwischen den Anti-Corona-Protesten und christlichen Gruppen Berührungspunkte, etwa wenn sich gegen die Beschneidung des Rechts auf Religionsausübung stark gemacht wird oder böse Mächte als Ursache benannt werden. Sind Christen oder Kirchgemeinden also anfällig für solche Verschwörungstheorien und Proteste?
Im Grunde können und sollten Christen weniger anfällig für Verschwörungsideologie sein. Sie vertrauen darauf, dass Gott die Welt in Händen hält. Das hilft, auch mit den Unsicherheiten des Lebens umzugehen und Dinge hinzunehmen, die wir nicht einfach erklären können. Verschwörungsideologien reagieren auf Unsicherheiten und geben eine vermeintliche Sicherheit, indem sie versuchen, für alles, was geschieht, Schuldige zu benennen. Dann erscheint so ein Virus nicht als natürliche Mutation, sondern als absichtlich im Labor gezüchtete Biowaffe oder als Baustein in einem angeblichen Komplott von Pharmafirmen. Einen Schuldigen ausmachen zu können ist offenbar sehr entlastend und ein Blitzableiter für die eigene Wut angesichts vieler geplatzter Träume und echter existenzieller Sorgen.
Was empfehlen Sie, wie Christen und Kirche mit der derzeitigen Situation umgehen können. Welche Kritik und welche Art sie zu äußern halten Sie für legitim?
Ich wünsche mir, dass Christen aktiv widersprechen, wenn unbewiesene Unterstellungen verbreitet werden. Ich habe hohen Respekt vor den Politikern, die in dieser unübersichtlichen Lage schwierige Entscheidungen treffen müssen – die stets richtig oder falsch sein können. Das 8. Gebot ermahnt, kein falsches Zeugnis zu Lasten anderer zu geben. Dazu zählt auch, keine ungeprüften Behauptungen zu verbreiten und deutlich zurückzufragen, wo so etwas geschieht.
Was können Gemeindeglieder oder Pfarrerinnen und Pfarrer tun, wenn ihnen in ihren Kirchgemeinden Verschwörungstheorien begegnen?
Es ist sinnvoll, über die innere Mechanik von Verschwörungsideologien aufzuklären. Wer sich damit beschäftigt hat, ist weniger anfällig. Hilfreich ist auch, Räume und eine Atmosphäre zu schaffen, in denen Vertrauen und Verlässlichkeit gelebt werden. Verschwörungsideologien zerstören Vertrauen – das ist ihr größtes Problem. Wir brauchen aber Vertrauen zueinander und zu unseren Institutionen. Dieses Vertrauen zu bezeugen und sich nicht von der Saat des Zweifels anstecken zu lassen, die verschwörungsideologisches Denken immer begleitet, kann auch etwas bewirken. Das bedeutet nicht, unkritisch zu sein. Im praktischen Umgang kann es nützlich sein, die Behauptungen in ihre Bestandteile aufzulösen, denn oft werden durchaus wahre Elemente mit anderen Übertreibungen und Unterstellungen vermischt.
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