An Gewaltlosigkeit glauben
Herbst 1989: Der wichtigste Beitrag der Christen zum Gelingen der Friedlichen Revolution war wohl das entschiedene Drängen auf Gewaltfreiheit. Diese Haltung könnte wegweisend sein auch für die Gegenwart.Das größte Wunder des 9. Oktober 1989 kann nicht oft genug erinnert werden: Dass die entscheidende Demonstration für Veränderungen in der DDR gewaltlos verlaufen ist. Und das, obwohl die Zeichen auf Sturm und die Gewaltfrage auf Messers Schneide standen. Auch wenn die Logik der Gewalt die eigentlich dominierende war, konnte sich durch die andere Logik der Gewaltlosigkeit eine innere Verwandlung der Situation ereignen und das existierende Kraftfeld der Gewalt entscheidend in Richtung Enthaltung von Gewalt verändern. Dass dies gelungen ist, dürfte viele Gründe gehabt haben. Aber einer, vielleicht der entscheidende, liegt im Beitrag der Christen.
Im Herbst 1989 war es wohl das entschiedene Festhalten zahlreicher Pfarrerinnen und Pfarrer an dem Prinzip der Gewaltlosigkeit, was die Friedlichkeit der Vorgänge ermöglichte. So konnte der damalige Leipziger Super- intendent Friedrich Magirius rückblickend sagen: »Das Wunder, für das wir Gott aber danken: Der Geist der Gewaltlosigkeit, um den wir immer wieder gebeten hatten, wirkte bis hinaus auf die Straßen zu den immer größeren Demonstrationen.« Und Nikolaipfarrer Christian Führer (1943–2014) antwortete einmal auf die Frage, warum die Revolution friedlich geblieben ist: »Weil der Geist Jesu die Menschen ergriffen hat und zu einer friedlichen Gewalt wurde, sodass sie nicht geschlagen haben, wenn sie geschlagen wurden.« Auch der Leipziger Kabarettist Bernd-Lutz Lange meint: »Auf diesen friedlichen Protest, auf den Ruf ›Keine Gewalt‹, (…) auf Gebete und Kerzen war die Staatsmacht nicht eingerichtet. Diese massenhafte Friedfertigkeit hat sie letztlich gelähmt.«
Insbesondere müssen hierbei auch die Menschen gewürdigt werden, die schützende Kerzenketten an gefährdeten Orten bildeten. So erinnert sich der Zeitzeuge Martin Jankowski in seinem Buch »Der Tag, der Deutschland veränderte« an die Situation vor der Stasi-Zentrale »Runde Ecke«: »Aktivisten mit Schildern, auf denen ›Keine Gewalt‹ stand, achteten darauf, dass niemand die Kerzenlinie überschritt.« Auch wurden vor den Friedensgebeten Flugblätter mit Aufrufen zur Gewaltlosigkeit verteilt und in allen Ansprachen in den vier Innenstadtkirchen die Anwesenden auf die unbedingte und konsequente Gewaltfreiheit eingeschworen. Es war eine Art Bewährungsprobe für die Bergpredigt. So sagte Pfarrer Gotthard Weidel am 9. Oktober in der Nikolaikirche: »Jeder Zuhörer, jeder Teilnehmer an dieser Andacht hat die große Aufgabe, ein Werkzeug des Friedens zu sein. Der Geist des Friedens muss aus diesen Mauern herausgehen. Achtet darauf, dass die uniformierten Männer nicht angepöbelt werden. Sorgt dafür, dass keiner Lieder oder Losungen anstimmt, die die Staatsmacht provozieren müssen. Nehmt die Steine aus der Hand, die sich in der geballten Faust befinden.« Und Pfarrer Hans-Jürgen Sievers (1943–2019) sagte zeitgleich in der Reformierten Kirche: »Ich möchte noch einmal um strikte Gewaltlosigkeit bitten. Wenn wir ein gutes Ziel haben, muss auch der Weg dahin ein guter sein und müssen die Mittel, die wir anwenden, gut sein.« Und Landesbischof Johannes Hempel (1929–2020) bat in der Thomaskirche die Anwesenden »um einen kühlen Kopf, um Besonnenheit und unbedingte Gewaltlosigkeit«. Denn Gewalt zerstöre alles, was uns teuer ist, und der höchste Wert sei das leibliche Leben.
Es war auch ein Praxistest der christlichen Entfeindungsliebe – für Friedrich Schorlemmer ein Schlüssel für das gewaltlose Gelingen der Revolution: »Die Sprecher der Opposition (…) haben sich meist in den Kirchen getroffen. Sie konnten den Machthabern vermitteln: Wir werden euch nicht aufhängen. Ihr werdet auch in den neuen Verhältnissen leben können. Das hieß zugleich: Ihr müsst jetzt nicht schießen, um euer Leben zu retten. Sondern ihr könnt hinterher auch noch leben.« Sollte dieser Geist der Gewaltlosigkeit nicht auch in heutigen »Kraftfeldern der Gewalt« eine Chance haben? Und könnten die Christen wieder Keimzellen, Kristallisationspunkte und Katalysatoren dieser anderen Logik sein?
Impressionen vom Elbe-Tauffest
Impressionen vom Elbe-Kirchentag in Pirna
Festtag 100 Jahre Glaube + Heimat
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