@Britta: Niemand hat behauptet, die Karte sei ein offizielles Dokument der reichsdeutschen oder KuK - Politik gewesen. Allerdings war sie ein Propagandamaterial und wurde zu Hunderttausenden gedruckt und vertrieben und zwar von der Berliner Musikalien Druckerei und dem Fritz Steidl Verlag. Sie ist offizielles Dokument der Europeana Collections 1914-1918, des Imperial War Museums und der European Library. Sie dokumentiert aber sehr eindrücklich und anschaulich die Intentionen der beiden von mir benannten offiziellen Dokumente und die waren stark beeinflussend auf die Politik und die Kriegsführung des Reiches. Im übrigen fasst das Septemberprogramm von Bethmann-Hollweg nur eine Reihe von VOR Kriegsbeginn formulierter Ziele zusammen, die in Einzeldokumenten nachgewiesen werden können, z.B. in der Rede von Alfred Guggenberg vom 24.04.1914 beim Essener Bergbauverein vor den Spitzen der deutschen Montanindustrie, um nur eines zu nennen. So niedrig ist das Niveau also gar nicht. Ja, und was sonstige Quellen angeht, sehen Sie, da werde ich auf welche Zugriff haben, die Sie nicht kennen und Sie halt welche, die mir unbekannt sind. Die Frage ist doch, welche Relevanz die haben und ob und inwieweit man die Gesamtzusammenhänge beurteilen kann oder eben auch nicht.
Gott auf dem Schlachtfeld
Millionen Menschen starben im Ersten Weltkrieg – auch die Kirche rief zum Gemetzel. Danach war einigen Theologen klar: Gott ist ganz anders. Und selbst tief unten im Abgrund.Es war in der Schlacht um die Champagne, es war mitten im großen Sterben, als auch eine ganze Theologie tot im Schützengraben lag. »Es war in einer Nacht, in der viele meiner Freunde tödlich verletzt wurde, in der schmerzlichen Schlacht. Und ich musste mit ihnen reden und sie starben überall um mich herum.« Der alte Gelehrte mit dem schlohweisen Haar antwortet in einem sehr deutschen, sehr leisen Englisch, als ein amerikanischer Fernsehreporter den großen Theologen Paul Tillich (1886–1965) nach dem Wendepunkt in seinem Denken fragt.
Der Deutsche räuspert sich, stockt: »Ich habe die tiefste negative Seite des Lebens gesehen in dieser Nacht. Und meine Augen wurden für immer geöffnet.«
Tillich hatte sich zu Beginn des Weltkrieges 1914 freiwillig als Feldgeistlicher an die Westfront gemeldet, ein Jahr später brach für ihn alles zusammen, was er bis dahin gelernt hatte: all der Idealismus in Philosophie und Theologie, all der Glaube, dass alles immer besser werde und Gott mit dem Fortschritt Hand in Hand ginge. »Das vierjährige Erleben des Krieges riss den Abgrund für mich und meine ganze Generation so auf, dass er sich nie mehr schließen konnte«, schrieb Tillich später.
An diesem Abgrund musste sich für ihn künftig alles messen, was über Glaube und Gott gesagt wird. Tillich fand als Professor an der Technischen Universität Dresden und ab 1933 vor den Nazis nach Amerika geflohen radikale Antworten: Der gefeierte Theologe konnte sich Kirche nur noch als eine echte Begegnung mit den existentiellen Problemen der Menschen vorstellen, in der sich die Fragenden verändern und auch die Antwortenden, sogar Gott selbst. Als eine lebendige Beziehung zu Gott, mitten im Abgrund. Er kannte nach dem Schlachten keinen anderen Ort mehr dafür.
In einem Schweizer Industriedorf liest kurz nach Kriegsbeginn ein Landpfarrer das Manifest von 93 deutschen Elite-Gelehrten, die sich hinter des Kaisers Kriegspolitik stellen – und entdeckt mit Entsetzen darunter die Namen all seiner verehrten Theologieprofessoren wie Adolf von Harnack. »Ich habe eine arge Götterdämmerung erlebt«, schreibt der junge Schweizer Pfarrer: »Wie Religion und Wissenschaft restlos sich in geistige 42 cm Kanonen verwandelten. ... Ich wurde irre an der Lehre meiner sämtlichen Theologen in Deutschland.« Der Name des Pfarrers: Karl Barth (1886–1968).
Auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs zerbrach die liberale Theologie: Eine Theologie, die vom aufklärerischen Glauben an die Vernunft geprägt war, die im Fortschritt das Reich Gottes suchte. Die die Bibel so lange historisch-kritisch zerlegte, bis nicht viel mehr übrig blieb als bürgerliche Moral und Kultur. Die zehn Millionen Toten des Ersten Weltkrieges lehrten das Scheitern von Kultur und Moral.
Karl Barth war entsetzt. Und konnte den Glauben nur noch radikal anders denken: Es gibt einen unüberwindlichen Abstand zwischen Christentum und Kultur, Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf. Gott ist der »ganz Andere«. Nicht durch ausgeklügelte Theorien, nicht durch Frömmigkeit, nicht durch Kultur oder Moral – nur wenn Gott sich wie in Jesus Christus selbst offenbart, kann ihn der sündige Mensch erkennen. Viele Theologen folgten Barth. Denn der Krieg hatte monströs gezeigt, was geschieht, wenn Gott mit menschlichen Wünschen oder Ideologien verwechselt wird.
Am Grunde aller Katastrophen, die auf den Ersten Weltkrieg folgten, fand der Theologe Paul Tillich jenen Abgrund, in den er schon in der Nacht in der Champagne geblickt hatte: »Den Abgrund der Sinnlosigkeit.« Ist dort unten Gott? Er erscheine dem Menschen oft erst dann, schrieb Tillich, wenn er bereits »in der Angst des Zweifels untergegangen ist«. Jene Kriegsnacht hatte es ihn gelehrt.
Als die Wolken des drohenden Weltkrieges im Juli vor genau 100 Jahren auch über Sachsen heraufzogen, bat der Leipziger Universitätsprediger und spätere Landesbischof Ludwig Ihmels vor den Studenten Gott um Frieden – und predigte doch: Wenn dieser Krieg kommt, ist er von Gott gewollt, tut eure Pflicht! Wie konnte es zu dem Massenschlachten des Ersten Weltkriegs kommen – und wie dazu, dass die Kirche ihn so sehr stützte? Die Predigten des Theologieprofessors Ludwig Ihmels in der Leipziger Universitätskirche zwischen 1914 und 1918 geben darauf eine Antwort. Sonntag-Redakteur Andreas Roth hat sie in der Sächsischen Landesbibliothek gefunden. Ein deutsches Drama und Zeugnis vom Versagen und Neubeginn der Kirche - Sie lesen es online hier im SONNTAG-Digital-Abo.
Entschuldigung, ich bin auf die falsche Taste gekommen, der Mann heißt Alfred Hugenberg (1865-1951), war maßgeblicher Montan -, Rüstungs- und Medienunternehmer, später unter Hitler auch noch kurz Minister. Soviel Exaktheit muss sein.
@P.D. Wenn Sie Propagandamaterial so hoch einschätzen, im Rahmen des Jubiläums ist da ja einiges Aufschlußreiches erschienen. Besonders empfehlenswert ist aber auch "Hinter den Kulissen des französischen Journalismus" , in dem zu erfahren ist, daß für Kriegspropaganda sofort als erste Rate 25 Mio Goldfrancs bereitgestellt wurden und u.a. die besten Maler der Pariser Oper in über 200 Räumen beschäftigt waren, Holzskulpturen so herzurichten, daß sie wie Kinder mit abgehackten Händen aussahen (Idee vom franz. Finanzminister) oder wie Leichen mit herausgerissenen Augen, Zungen, zertrümmerten Schädeln etc. Es wurden Kulissen von geschändeten Gräbern und zerstörten Baudenkmälern gefertigt und die so gewonnenen Bilder als Dokumente, quasi als Augenzeugen in alle Welt verschickt. Besonders makaber: ein reicher Amerikaner hatte nach dem Krieg eine Stiftung für die armen Kinder, denen die Deutschen die Hände abgehackt hatten, gegründet. Aber er fand kein einziges derartiges Kind... Finden Sie diese Art von Propaganda besser als "Kutschkes Traumgebilde"? Wenn Deutschland derart auf Expansion aus war, warum hat es dann beim ("Raub")Frieden von Brest-Litowsk sich nicht selbst die Gebiete einverleibt, die von Rußland abgespalten wurden? M.W. gab es sogar ein Dankesnote von Polen an den deutschen Kaiser, daß nach 123 Jahren erstmals wieder ein polnischer Staat entstand, Finnland und die baltischen Staaten wurden frei, Reparationen oder Kriegsschuldzuweisungen gab es nicht. Das mea maxima culpa zieht nicht mehr bei allen! Ich bin froh, diese Denkweise vor einigen Jahren verloren zu haben und ohne die umerzieherische Vorbelastung auf Quellensuche gehen zu können.
Lieber Herr Lehnert, ich hege großen Respekt für Bruder Führer und sein Engagement in Leipzig. Er hat, an exponierter Stelle, das getan, was er für richtig hielt und hat es in tiefer Verbundenheit mit Christus getan.
Er hat Kirche geöffnet. Er hat Menschen geholfen, Mut zu finden in einer Zeit, in der viele mutlos gewesen sind.
Nich jeder hat das getan und ich würde denen, die sich eher bedeck gehalten haben, keinen Vorwurf machen wollen.
Wir leben in anderen Zeiten. Ich glaube nicht, das wir es als Kirche nötig haben, uns irgendwo anzubiedern. Wir haben die Freiheit, die wir uns einst gewünscht hatten. Wir können, ohne angst vor Repression, das Evangelium verkündigen. Wir können die Menschen unter das Kreuz rufen und wenn wir wollen können wir das jeden Donnerstag auf dem Markt machen.
Wir haben viele Möglichkeiten. Wir müssen uns keiner politischen Strömung andienen, sondern wir können wir selbst sein.
Gert Flessing
Nur zur Erinnerung: A. Roth schreibt oben: „Auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs zerbrach die liberale Theologie: Eine Theologie, die vom aufklärerischen Glauben an die Vernunft geprägt war, die im Fortschritt das Reich Gottes suchte. Die die Bibel so lange historisch-kritisch zerlegte, bis nicht viel mehr übrig blieb als bürgerliche Moral und Kultur. Die zehn Millionen Toten des Ersten Weltkrieges lehrten das Scheitern von Kultur und Moral … Denn der Krieg hatte monströs gezeigt, was geschieht, wenn Gott mit menschlichen Wünschen oder Ideologien verwechselt wird … Für Karl Barth und andere Theologen seiner Zeit war der Weltkrieg jedoch in der Tat eine Bankrotterklärung des Kulturprotestantismus und der liberalen Theologie“. Und heute? Will jemand ernsthaft bestreiten, dass die Bibel so lange historisch-kritisch zerlegt wird, bis nicht viel mehr übrig ist außer Kultur und Moral im Sinne von Frieden, Gerechtigkeit und Umweltschutz? Der Unterschied ist lediglich: Das Scheitern der heutigen politisch correcten Kultur und Moral steht erst noch bevor.
@Britta: Vielen Dank für Ihre nette Lektüreempfehlung. Eine Nachfrage hätte ich dazu: Wie hoch würden Sie die Zuverlässigkeit und Belegkraft einer Quelle einschätzen, die sich folgendermaßen beschreiben ließe? Ein - sagen wir einfach mal - höherrangiger Offizier der ehemaligen deutschen Militärischen Stelle des Auswärtigen Amtes (MAA), vorgeblich zuständig für die Abteilung "Mentale Feindbeeinflussung im Felde", der aber aus naheliegenden Gründen namentlich nicht genannt und damit auch nicht recherchiert werden kann, veröffentlcht acht Jahre nach den Geschehnissen ein Buch mit dem Titel "Hinter den Kulissen der deutschen Heerespropaganda im Großen Kriege". Das Buch erscheint nur in englischer Sprache und in einem Verlag, der zur Gruppe einer traditionell deutschkritischen, wenn nicht gar deutschfeindlichen Wochenzeitschrift - sagen wir der Einfachheit halber zur Saturday Review - gehört. Ja, sicher, auch aus solchen Publikationen heraus lässt sich ein Geschichtsbild entwickeln, die Frage ist aber auch hier: Welches genau? Na egal, meiner kleinen bibliophilen Schwäche und dem unschlagbaren Preis von 6,90 Euro zzgl. Versandkosten im antiquarischen Buchhandel wird es geschuldet sein, wenn ich mir die Schwarte Ihres namentlich nicht genannten, ehemaligen Pariser Chefredakteurs vielleicht doch gönne.
Zufällig am gestrigen Tage auf Deutschlandradio Kultur gehört, es gab 1913/14, wenn auch wenige, mahnende und warnende Stimmen innerhalb des deutschen Protestantismus, so etwas sollte nicht verschwiegen werden:
http://www.deutschlandradiokultur.de/100-jahre-erster-weltkrieg-rufer-in...
@ Britta ich würde den Ball mal etwas flacher halten, auch wenn jetzt einige Engländer momentan schreiben wir hätten etwas weniger Schuld. Engländer, an denen sich schon Kaiser Wilhelm und sein Kanzler sich verspekulierten als sie auf deren Neutralität hofften. Man daher die Bündnistreue zu Österreich so sehr hochspielte nach dem Mord in Sarajevo. Glaubten sich auch daher mehr darüber empören zu dürfen als das betroffene Wien selbst und glaubte daher Frankreich bequem den Krieg erklären zu können, es blitzartig schnell, fast verlustlos besiegen zu können. Marschierte los, wo man dann merkte, man hat sich mehrfach verspekuliert. Dabei hätte der Kaiser, Deutschland in diesen Monaten 2014 den Countdown zum Krieg auch stoppen können und an dieser wichtigen Schuldfrage wird es nie ernstzunehmenden Zweifel geben.
Ja, es gab einige, aus der pietistischen Frömmigkeit kommende Kriegsgegner der Kirche. Aber sie waren eher Rufer in der Wüste.
Was mich stört, ist der vehemente Kampf darum, am WWI als Deutschland auch besonders schuld zu sein.
Während ernsthafte Historiker, wie Clark, der Meinung sind, es ware ein allgemein - europäisches Desaster gewesen, wird auf der Kriegsschuld, ja teilweise der Alleinschuld Deutschlands beharrt.
Manchmal erscheint es mir, als ware es eine rückwärtsgerichtete Schulddebatte, die, weil ja Deutschland nicht nur den WWII vom Zaun gebrochen, und dabei vor allem den Holocaust begangen hat, die Wurzeln in einer besonderen Verwerflichkeit deutschen Handelns zuvor sucht.
Damit möchte man den Makel, der uns, als Volk anhaftet, noch ein wenig starker zementieren.
Diesen Makel scheint man zu brauchen, um auch alles, was heute in Deutschland geschieht, daran bemessen zu können.
Wo ein Britte davon sprechen kann, das es egal, ob richtig oder falsch SEIN Land ist und wo ein Franzose die Glorie der Grand Nation beschwört und ein Russe von dem "heiligen Mütterchen Russland" spricht, dürfen wir "mea culpa" stammeln.
Ob uns dan nun besser macht?
Gert Flessing
@Gert Flessing: Man taumelt nicht "schlafwandelnd" in einen mehrjährigen, mörderischen Weltkrieg. Christopher Clark, den ich sehr schätze, hat in allen Interviews und Podiumsdiskussionen der letzten Zeit immer wieder betont, dass sein Buchtitel etwas missverständlich herüber gekommen sei und zu Irritationen Anlass gegeben hätte - sicher auch, weil er insbesondere von Jörn Leonhard hart für diesen reißerischen Titel kritisiert worden ist. Und Clark hat auch besonders betont, dass er Fritz Fischer nicht widerlegen könne, dass dessen Ergebnisse nach wie vor Bestand hätten, weil sie sauber recherchiert und belegt seien. Genaue Quellenangaben kann ich Ihnen gerne liefern. Aber das sind nun mal die Fakten: Das Deutsche Reich hat Österreich-Ungarn am 05. Juli 1914 einen Blankoscheck auf absolute Handlungsfreiheit erteilt, wohl wissend, dass dieses eine Gewaltspirale in Gang setzen könnte und hinterher auch zu keinem Zeitpunkt deeskalierend gewirkt. Am 28. Juni 1914 erklärte Ö/U Serbien den Krieg, das Deutsche Reich Russland am 01. August und Frankreich am 03. August. Am 02. August 1914 wurde das neutrale Luxemburg annektiert, am 04. August das neutrale Belgien überfallen. Angesichts dieser Faktenlage steht das Deutsche Reich erst einmal zu Recht als Aggressor vor der Weltgeschichte da. Und es trägt ein besonderes Maß an Verantwortung für die Entwicklung im Juli 1914 und den Ausbruch der militärischen Gewalt. Was bitte soll also das Lamento?
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